Loretta Chase
besonderen geistigen Fertigkeiten,
um daraus zu folgern, dass eine nach Mitternacht verschickte Nachricht von
Olivia kaum erfreuliche Neuigkeiten enthielte.
Er riss
ihren Brief auf.
Ormont House
Freitag, 7. Oktober
Mylord,
nachdem
ich den ganzen Tag Vergeblich auf eine ENTSCHULDIGUNG gehofft habe, kann ich nicht länger warten. Ich
überlasse es Euch , MYLORD, L ord und Lady Atherton Eure Widersinnige
Weigerung zu erklären, das zu tun, was ALLE glücklich machen würde.
Ich habe meine Vorbereitungen getroffen. Die Taschen sind gepackt, die Diener
bereit für die Große Expedition. Die Liebenswürdigen Damen, die sich gütigst erboten haben, allen Komfort ihrer Domizile aufzugeben, um uns auf unserem
Noblen Unterfangen zu begleiten, sind ebenfalls BEREIT, und brennen darauf,
endlich aufzubrechen.
Glaubt
Ihr Euch nun Verlassen, habt Ihr dafür allein Euch selbst und Eurer empörenden
Undankbarkeit zu danken.
Olivia
Carsington
PS: Mein
Gewissen ist Rein. Du hast mir KEINE WAHL gelassen. Wenn du diese Zeilen liest,
werde ich längst Fort sein.
»Nein«, sagte er. »Nicht schon wieder.«
Auf der Old North Road,
eine Stunde später
»Bei
meinem Wort, eine
Ewigkeit ist es her, dass ich zuletzt in einer Reisekutsche unterwegs war«,
sagte Lady Withcote, als der Wagen bei der Mautschranke von Kingsland hielt, um
den Wegezoll zu entrichten. »Ich hatte ganz vergessen, wie hart man rangenommen
wird – insbesondere auf diesem grässlichen Kopfsteinpflaster.«
»Allerdings«,
pflichtete ihr Lady Cooper bei. »Erinnert mich an meine Hochzeitsnacht. Eine
schauderliche Erfahrung. Hätte mich fast für immer von der Sache abgebracht.«
»So geht es immer mit dem ersten Gatten«, sagte Lady Withcote. »Liegt daran,
dass man als
junges Mädchen so unerfahren ist und kaum weiß, was wohin gehört.«
»Und
manchmal nicht mal das«, seufzte Lady Cooper.
»Weshalb
man seinen Gatten auch nicht belehren kann«, sagte Lady Withcote.
»Und weiß
man endlich Bescheid, lässt er sich nicht mehr belehren«, schloss Lady Cooper.
Lady
Withcote lehnte sich zu Olivia vor, die mit Bailey auf der gegenüberliegenden
Bank saß. »Trotzdem war es nicht so schlimm, wie es klingt. Den ersten haben
unsere Eltern für uns ausgesucht. Ein Mann, doppelt oder dreimal so alt wie
wir. Aber das erhöhte die Chancen, früh Witwe zu werden. Als es dann so weit
war, waren wir reifer und wussten, wie wir beim zweiten Mal bekommen würden,
was wir wollten.«
»Manch eine hat den zweiten Gatten erst mal ausprobiert,
bevor sie seinen Antrag angenommen hat«, ließ Lady Cooper wissen.
»Nicht zu
vergessen jene, die sich eine erneute Heirat gleich ganz gespart haben«, sagte
Lady Withcote.
Olivia
wusste, dass sie Urgroßmama meinten, die ihrem ersten und einzigen Gatten
unfehlbar treu – und nach seinem Tod allen Männern gleichermaßen untreu gewesen
war.
»So, es
scheint, als hätten wir das Kopfsteinpflaster hinter uns«, meinte sie munter,
als der Wagen wieder anfuhr.
Selbst eine
so luxuriöse, gut gefederte Reisekutsche wie diese war hauptsächlich dafür
gebaut, lange Strecken auf unbefestigten Straßen zurückzulegen und weniger für
den Komfort ihrer Insassen zu sorgen. Wenn die Räder über Pflastersteine
ratterten, wurde es ausgesprochen laut und unangenehm.
Seit einer
Stunde hatten die Damen über den Lärm hinweggeschrien und sich auf ihren Sitzen
kräftig durchschütteln lassen. Olivia hatte es ihnen notgedrungen nachgetan.
Schon jetzt tat ihr der Hintern weh, und der Rücken schmerzte – und das, obwohl
Shoreditch Church, von wo aus alle Entfernungen nach London gemessen wurden,
gerade einmal eineinviertel Meilen hinter ihnen lag.
Doch nun
begannen die Häuser sich zu lichten, und der Boden wurde weicher. Sie legten an
Tempo zu, und die nächste Meile verging viel schneller als die erste. Schon
bald passierten sie die Mautschranke von Stamford und krochen die steile Anhöhe
von Stamford Hill hinauf. Von oben sollte man angeblich bis zur
St.-Pauls-Kathedrale sehen können.
Olivia
erhob sich und öffnete das Fenster. Sie lehnte sich hinaus und sah zurück, doch
es war zu dunkel. Gerade einmal den schwachen Schein einzelner Straßenlaternen
konnte sie erkennen, dazwischen leuchteten hell die Stadtresidenzen, wo man
noch bis in die Morgenstunden rauschende Bälle feiern würde. Der Mond war noch
nicht aufgegangen, und wenn er es endlich täte, würde es auch nicht viel
bringen, war er doch gerade eine schmale Neumondsichel, die kaum
Weitere Kostenlose Bücher