Loretta Chase
zugehört? Wirst
du jetzt wie meine Eltern, die nur den Stimmen in ihrem Kopf lauschen?« Mit
seinen verrückten Eltern verglichen zu werden war schlichtweg eine Beleidigung.
Dennoch wahrte Olivia ihre freundlich-arglose Miene, statt ihm kräftig gegen
das Schienbein zu treten.
»Natürlich
habe ich dir zugehört«, sagte sie. »Sonst wüsste ich ja nicht, wie einseitig du
die Sache betrachtest, und dass es an mir ist, Maßnahmen zu ergreifen, um dich
vor dir selbst zu retten.«
»Mich vor
mir selbst zu retten?«, fragte er. »Ich muss nicht gerettet werden. Ich weiß
sehr genau, was ich tue und weshalb. Und ich habe zu dir gesagt, wir dürften
meinen Eltern nicht nachgeben.«
»Aber dir
bleibt keine andere Wahl«, sagte sie.
»Irgendeine
Wahl bleibt immer«, erwiderte er. »Ich brauche nur Zeit, um meine Möglichkeiten
zu klären. Du aber hast mir nicht mal Zeit zum Nachdenken gelassen!«
»Du hast
auch keine Zeit«, entgegnete sie. »Wenn du in dieser Angelegenheit nicht
langsam das Kommando übernimmst, werden sie den Einsatz erhöhen. Du weißt
nicht, wie sie denken. Du verstehst sie nicht. Ich schon.« Das war das große
Talent der DeLuceys und das Geheimnis ihres Erfolges: Sie durchschauten andere
Menschen und verstanden dies auszunutzen. »Vertrau wenigstens einmal meinem
Urteil.«
»Wie sollte
ich, wenn du selbst nicht weißt, was du willst?«, entgegnete er. »Dir fällt
hier die Decke auf den Kopf, und meine Eltern haben dir eine Möglichkeit
geboten, mal wieder
rauszukommen. Nur darum geht es dir doch. Ich habe das Funkeln in deinen Augen
gesehen, als ich dir von unserem Spukschloss erzählt habe. Ich konnte praktisch hören , was du gedacht hast: Geister. Geheimnisse. Abenteuer. Gefahr .
Für dich ist es einfach nur ein Abenteuer. Hast du selbst gesagt. Für mich
nicht.«
»Weil es
nicht Ägypten ist«, sagte sie. »Weil außer Ägypten gar nichts interessant oder
bedeutsam ist.«
»Das stimmt
doch überhaupt ...«
»Und weil
du stur bist«, unterbrach sie ihn. »Weil du dich den Möglichkeiten verschließt.
Weil du wie immer mit dem Kopf durch die Wand willst, statt das Beste aus der
Situation zu machen. Du bist kein Opportunist, ich weiß. Das ist mein Talent.
Warum kannst du nicht einsehen, dass es daher das Klügste ist, uns
zusammenzutun? Zusammen sind wir unschlagbar.«
»Es wäre
überhaupt nicht klug!«, rief er. »Für mich ist das nicht nur ein Spiel.«
»Meinst du
das ernst? Dass es für mich nur ein Spiel ist?«
»Für dich
ist alles ein Spiel«, sagte er. »Ich habe gestern im Vertrauen mit dir
gesprochen. Ich dachte, du hättest mich verstanden. Aber du machst dir einen
Spaß daraus, Menschen wie Karten auszuspielen.«
»Ich habe
es doch nur für dich getan, du Dummkopf!«
Er war zu
aufgebracht, um darüber erzürnt oder verletzt zu sein. Als hätte er sie gar
nicht gehört, fuhr er fort: »Du hast gut gespielt, zugegeben. Du hast mir
bewiesen, dass du es mit meinen Eltern aufnehmen und sie von deinen albernen
Ideen begeistern kannst. Aber ich bin nicht meine Eltern. Ich kenne dich. Ich
weiß, mit welchen Tricks du spielst. Und ich werde nicht mein ganzes Leben auf
den Kopf stellen lassen, nur weil du von deinem gelangweilt bist!«
»Das ist
das Abscheulichste, Verletzendste, Uneinsichtigste, was du jemals zu mir gesagt
hast«, meinte sie. »Du benimmst dich wie ein Idiot, und Idioten langweilen
mich. Scher dich zum Teufel.« Sie versetzte ihm einen kräftigen Schubs.
Damit hatte
er nicht gerechnet. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings
ins Gebüsch.
»Dummkopf«,
sagte sie und stürmte davon.
White’s Club,
kurz nach Mitternacht
Lisle hatte den Tag damit zugebracht,
sich beim Boxen, Fechten, Reiten und – aus purer Verzweiflung – Zielschießen
seiner Wut zu entledigen.
Noch immer
war seine Laune mörderisch.
Er saß im
Kartenzimmer, beäugte die anderen Gentlemen über den Rand seines Glases und
überlegte, mit wem sich wohl am besten streiten ließe, als eine ehrerbietige
Stimme an seiner Schulter sagte: »Verzeihen Sie, Euer Lordschaft, aber eine
Nachricht ist für Sie eingetroffen.«
Lisle
wandte den Blick. Der Diener stellte ein silbernes Tablett auf dem Tisch neben
ihm ab.
Auf dem
gefalteten und versiegelten Briefbogen stand sein Name. Wenngleich er dank des
einen oder anderen Glases nicht mehr ganz so klar im Kopf war wie gewöhnlich,
konnte er den Verfasser doch mühelos ausmachen.
Ihm
schwante Schlimmes. Denn es bedurfte keiner
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