Loretta Chase
gesessen.
Aber das
war ihr Vater und sie noch ein Kind gewesen.
Lisle war
nicht ihr Vater. Ein- oder zweimal war sie schon mit ihm geritten, aber das war
Ewigkeiten her – ehe er so männlich geworden war.
Wäre sie
wenigstens auf die Idee gekommen, sich an seinem Rock festzuhalten! Aber sie
hatte ganz einfach ihre Arme um ihn geschlungen – weil es das Naheliegendste
war und man das eben so machte, wenn man zusammen auf einem Pferd saß. Nun
jedoch spürte sie, wie sein Bauch sich unter ihren Armen spannte, sein Rücken
sich an ihren Brüsten straffte. Sie spürte, wie ihre Schenkel sich an seinen
Schenkeln rieben, wie sie sich rhythmisch bewegten, als das Pferd über die
schlammig zerfurchte Straße trabte.
Fast meinte
sie zu spüren, wie auch ihr letzter Rest an Moral – so sie denn noch welche
hatte – dahinschwand.
Aber ach,
zum Glück war es nicht weit, und am Ende des Ritts dürfte Lisle sie mit einer
an Tatsachen reichen Lektion erfreuen. Das würde alle ungenehmen und
vergeblichen Anwandlungen im Keim ersticken.
Sie
schmiegte ihre Wange an Lisles Hals und sog die erdige Landluft in sich auf,
die noch ein wenig nach Regen roch – und nach Pferd und nach Mann, und wenn man
ganz genau schnupperte, auch ganz schwach, aber doch sehr betörend nach
Rasierseife.
Nach einer
Weile meinte er: »In welcher Hinsicht Millicent wohl wendig war?«
»Längst
nichts so Exotisches, wie du es dir jetzt zusammenfantasierst«, erwiderte sie.
»Kein Vergleich zu deinen Haremstänzerinnen, nicht annähernd so akrobatisch.«
»Zunächst einmal fantasiere ich mir gar nichts zusammen«, sagte er.
»Zweitens sind die Tänzerinnen genau genommen keine Harems tänzerinnen.«
Oje, jetzt
ging es schon los. Aber wenigstens dürfte die kleine Sprachstunde sie
erfolgreich von der überbordenden Männlichkeit und diesem betörenden Duft
ablenken, den man in Flaschen füllen und mit einem Giftzeichen versehen sollte.
»Mit dem Wort Harem bezeichnet man gemeinhin die Frauen eines
Haushalts«, dozierte er weiter. »Wenngleich die eigentliche Bedeutung des
Wortes einen heiligen oder verbotenen Ort meint. Die Tänzerinnen hingegen ...«
»Mussten
wir nicht eben nach links abbiegen?«, fragte sie arglos.
»Oh. Ja,
richtig.« Er ließ das Pferd ein paar Schritt zurückgehen und bog linker Hand in
einen Pfad ein.
Gerade noch
mal gut gegangen. Vielleicht lag es ja an seinem betörenden Geruch oder der
Wärme seines Körpers oder all der überbordenden Männlichkeit, oder eher noch an
einer verheerenden Mischung aus alledem, aber viel hätte nicht gefehlt, und sie
hätte sich gerade wirklich für die korrekte Bedeutung des Wortes »Harem« zu
interessieren begonnen.
Kurz darauf
kamen sie zu einer Weide und ritten weiter zu einer eingezäunten Fläche, auf
der ein Stein zu stehen schien.
»Hier ist
es«, sagte Lisle.
Als sie
näher kamen, sah sie, dass in den Stein eine Gedenktafel eingelassen war. »Ein
Stein«, sagte sie. »Du hast die Kutsche anhalten lassen, um mir einen Stein zu
zeigen.«
»Es ist
nicht irgendein Stein«, sagte er. »Es ist ein Denkmal. Der erste Gasballon, der
in England aufgestiegen ist, ist hier gelandet.«
»Wirklich?«
»Es gibt
Ansprüche zwar anderer Ballonisten, aber ...«
»Oh, das
muss ich mir anschauen!«
Sie zögerte
nicht lange, konnte sie es doch kaum erwarten, aus dem Sattel zu springen, um
von Lisle fortzukommen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Mit einer Hand
stützte sie sich auf dem Sattel ab, mit der anderen auf seinem Schenkel, was
ein Fehler war. Sie spürte es sogleich, den Schock dieser vertraulichen
Berührung, aber nun war es zu spät, die Hand zurückzuziehen – geradezu
lächerlich wäre es ihr erschienen. Schließlich wollte sie ja nur vom Pferd
steigen, und so ging es eben am schnellsten.
Sie schwang
ihr Bein über den Pferderumpf, sich alldieweil Lisles Hand bewusst, die ihre
festhielt ... auf seinem Schenkel ... sie gut festhielt. Mit pochendem Herzen
setzte sie auf dem Boden auf.
Ohne zu
warten, dass auch er abstieg, eilte sie zu der Einzäunung, raffte ihre Röcke
und kletterte darüber.
Sie wusste,
dass sie ihm dabei einen formidablen Blick auf ihre Unterröcke und Strümpfe
gewährte. Sie wusste auch, was das mit einem Mann machte. Aber nach allem, was
er ihr angetan hatte, war das nur fair.
»Lasset die Nachwelt wissen«, verlas sie in
laut deklamierendem Tonfall, der eines Staatsaktes
würdig war, »und ob dieses Wissens staunen, wie am 15. September 1784
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