Loretta Chase
verzeihen, weil du mir
deinen schönen Stein gezeigt hast, statt mir eine Lektion über Sitte und
Anstand und derlei mehr Langweiligkeiten zu erteilen.«
»Ich
erteile niemandem Lektionen!«, entrüstete er sich.
»Doch,
andauernd«, sagte sie. »Meistens finde ich das ja recht charmant, aber heute
war ich nicht in der Stimmung. Doch da du dich so vorbildlich beherrscht hast,
bekommst du einen Kuss zur Versöhnung. Natürlich nur bildlich gesprochen.
Vorerst.«
Trotzdem hatte
sein Blick sich auf ihren Mund gesenkt. Hastig richtete er ihn auf ihr rechtes
Ohr, was ihm sicheres Terrain schien. Doch weit gefehlt. Sie hatte ein kleines,
ganz entzückendes Ohr. Am Ohrläppchen hing ein goldener Ohrring mit einem
Jadestein. Er merkte, wie sein Kopf sich langsam vorneigte ...
Nein, dann
lieber ganz beiseitesehen – auf das Ballonisten-Denkmal beispielsweise. Oder
den Blick über die Weide schweifen lassen. Alles war besser, als sie anzusehen.
Viel zu viel Weiblichkeit stand da dicht vor ihm – und wo zum Teufel war
eigentlich der Wind geblieben? Ebenso plötzlich wie er aufgefrischt war, hatte
er sich gelegt, und nun konnte er sie sogar riechen .
Er setzte
an, ihr zu sagen, dass es höchste Zeit sei aufzubrechen.
Im selben
Augenblick wandte auch sie sich ihm zu.
Ihr Mund
berührte seinen.
Ein Schock
durchfuhr ihn.
Den
Bruchteil einer Sekunde starrten sie einander nur an.
Dann
sprangen sie so jäh auseinander, als wäre ein Blitz zwischen sie gefahren.
Sie fuhr
sich mit der Hand über den Mund, als wolle sie ein Insekt verscheuchen, das
dort gelandet war.
Mit
pochendem Herzen tat er es ihr nach.
Es
brachte nur nichts,
sich wie verrückt den Mund zu reiben. Olivia wusste, dass sie das nie mehr
loswerden würde: das Gefühl seiner festen, warmen Lippen, die lockende
Andeutung dessen, was sich dahinter verbarg, wie sein Kuss wohl schmecken
würde.
»Du hättest
mir nicht in die Quere kommen sollen«, sagte sie.
»Ich wollte
gerade etwas zu dir sagen«, verteidigte er sich. »Dein Mund hatte da überhaupt
nichts zu suchen.«
Sie
kletterte über den Zaun. »Ich hatte gesagt: Bildlich gesprochen wolle
ich dir einen Kuss zur Versöhnung geben!«, rief sie.
»Du hast
mich geküsst!«
»Es sollte
doch nur ein kleines Küsschen auf die Wange sein – wie von einer Schwester.«
Zumindest hoffte sie, dass es das hatte sein sollen. Oder dass sie sich überhaupt etwas dabei
gedacht hatte. Und dass sie nicht den Verstand verlor.
»Du bist
aber nicht meine Schwester«, sagte er in seiner pedantischen Art, als er ihr über die
Weide folgte. »Wir sind überhaupt nicht miteinander verwandt. Dein Stiefvater
war lediglich mal mit der Schwester meines Vaters verheiratet.«
»Danke für
die kleine Lektion in Ahnenforschung«, sagte sie.
»Was ich
damit sagen will, ist ...«
»Ich werde
es ganz bestimmt nicht wieder tun«, sagte sie. »Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Was ich
damit sagen will«, beharrte er, »ist, dass Männern in solchen Situationen keine Wahl
bleibt. Wenn sie sich in Gesellschaft einer attraktiven Frau befinden und sie ihnen
Avancen zu machen scheint, dann ...«
»Ich habe
dir keine Avancen gemacht!«
»Zu machen
scheint«, wiederholte er. » Scheint . Hörst du mir eigentlich nie zu?«
»Im
Augenblick wünschte ich, ich wäre taub.«
»Frauen
wissen da zu unterscheiden«, fuhr er fort. »Sie unterscheiden ganz genau.
Männer tun
das nicht. Männer sind wie Hunde, und wenn ... Herrje, warum erkläre ich dir das
überhaupt? Du weißt schließlich ganz genau, wie Männer sind.«
Das hatte
sie auch gedacht.
Wie man
sich doch täuschen konnte.
Sie waren
beim Pferd angelangt. Olivia sah es an, dann ihn. »Wir sollten zurück sein, ehe die
beiden alten Damen vor Neugier umgekommen sind«, sagte sie. »Du kannst deine
Lektion unterwegs fortsetzen.«
»Ich setze
mich nicht wieder mit dir aufs Pferd«, sagte er.
Sie konnte
auch gut darauf verzichten. Seine Wärme, seine Muskeln, sein Männergeruch
waren Gift für ihr armes Frauenhirn. Und sie mochte es nicht, wenn Männer sie
töricht werden ließen. Bei ihm schon gleich gar nicht.
Er
verschränkte die Hände. »Hinauf mit dir.«
Es war das
einzig Vernünftige. Dennoch ...
»Auf der
Straße steht knietief der Schlamm«, sagte sie. »Du wirst deine Stiefel ruinieren.«
»Ich habe
noch andere Stiefel«, erwiderte er. »Los, hinauf mit dir.«
Sie tarnte
ihren Seufzer der Erleichterung als gereiztes Schnauben, griff nach den Zügeln und
setzte ihren
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