Loretta Chase
ich mich eigentlich nur erinnern«, sagte sie. »Du hast mir so viele
Zeichnungen und Aquarelle geschickt, und wir haben zu Hause unzählige Bücher
über Ägypten.« Die zumeist sie gekauft hatte, um den Reisen folgen zu können,
die er in seinen Briefen beschrieb – stets viel zu knapp, wie sie fand. »Ich
war zwar noch nie da, aber ich kann es mir genau vorstellen und verstehe, was
du vermisst.«
»Warum dann
...« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Aber nein. Wir wollten die Waffen
ruhen lassen.«
Sie wusste,
was er hatte fragen wollen. Wenn sie all das wusste und verstand, wie sehr er
sich nach Ägypten sehnte, warum dann hatte sie ihn auf diese Reise gelockt, an
den wohl schrecklichsten Ort auf Erden? Nur um seine Eltern zu beschwichtigen,
denen sein Glück gleichgültig war und die ihn ohnehin noch nie verstanden
hatten? Wer könnte besser verstehen als sie, wie es war, sich nach einem
anderen Leben zu sehnen, einen Traum zu haben, den man verwirklichen wollte?
Sie wollte,
dass sich sein Traum erfüllte.
Aber sie
wollte auch, dass sich ihr Traum von einem anderen Leben erfüllte, was, wie ihr
schon vor geraumer Zeit aufgegangen war, für eine Frau nahezu unmöglich war.
Was wiederum nicht hieß, dass sie alle Hoffnung aufgegeben hätte oder nicht
mehr auf Mittel und Wege sann, es doch irgendwie geschehen zu lassen. Nahezu
unmöglich war ja nicht dasselbe wie unmöglich.
Doch bis
sie eine Lösung gefunden hatte – wenn sie denn jemals eine fand –, würde sie
Abenteuer eben aus zweiter Hand erleben müssen. Und wenn Lisle hier in England
festsaß ... aber nein, welch unerträglicher Gedanke. Er würde sich aus schierer
Verzweiflung aufknüpfen, und sie würde es ihm aus bloßem Mitgefühl nachtun –
wenn sie nicht zuvor schon vor Langeweile gestorben war.
All das
sollte er wissen, doch er tat es nicht, denn er war ein Mann und schwer von
Begriff.
Und weil er
ein Mann war und schwer von Begriff, dürfte sich ihm auch die ausgeklügelte
Raffinesse ihres Plans nicht erschließen.
Wenn er
wüsste, was sie vorhatte, würde er wahrscheinlich entsetzt Reißaus nehmen. Oder
sie zum Teufel wünschen.
Was allein
daran lag, dass er keine Fantasie hatte.
»The George«, Stamford, Lincolnshire,
neunundachtzig Meilen von London
Kurz vor Mitternacht
Geschrei riss Lisle aus tiefem, dringend
benötigtem Schlaf.
»Schnapsdrosseln«,
brummelte er. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«
Drei
widerspenstige Damen vierhundert Meilen durch die Lande zu kutschieren war
nichts für schwache Nerven. Gleich den Pferden wollten sie regelmäßig gefüttert
und getränkt werden. Im Gegensatz zu den Pferden konnte man sie indes nicht an
jedem zweiten Halt auswechseln, zudem ließen sie sich auch nicht aufzäumen und
anschirren. Was bedeutete, dass man bei jedem Halt außerordentlich wachsam sein
musste. Man durfte die Damen nicht trödeln lassen, denn ließ man derlei erst
einreißen, trödelten sie bis in alle Ewigkeit. Und je länger sie an einem Ort
verweilten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es Ärger gab.
Man konnte
von Glück sagen, ohne weitere Zwischenfälle gegen neun Uhr abends bei »The
George« angelangt zu sein, wo sich schließlich auch die beiden anderen Kutschen
einfanden. Mit der gesamten Dienerschaft und allem Gepäck nahm man fast
sämtliche Zimmer in Beschlag. Zu Lisles unendlicher Erleichterung zogen die Damen
sich unverzüglich auf ihre respektiven Zimmer zurück – nachdem Olivia ihm noch
hatte mitteilen müssen, dass sie dringend ein Bad brauche.
»Die Damen
meinte, ich rieche nach Pferdestall«, hatte sie ihm völlig unnötigerweise
anvertraut. Gewiss hatten die beiden lüsternen Alten noch ganz anderes gesagt:
anzügliche Bemerkungen über Hengste und im Herrensattel reitende Damen und
allerlei mehr, an das er lieber nicht denken sollte, aber nicht umhinkam,
beständig daran zu denken.
Da musste
er sich nicht auch noch Olivia im Bad vorstellen.
Er wälzte
sich herum und zog sich ein Kissen über den Kopf, was wenig half. Draußen wurde
noch immer geschrien, doch konnte er kein Wort verstehen. Wider besseres Wissen
spitzte er unter den Daunen die Ohren.
Alle
Hoffnung auf Schlaf war dahin.
Die
Stimmen, nun begleitet von wütenden Schritten, kamen näher.
»Ich hab es
doch genau gesehen!«
»Nichts
hast du gesehen. Das bildest du dir nur ein!«
»Du hast
ihr schöne Augen gemacht!«
»Und du?
Ich hab genau gesehen, wie du ihn angeschaut hast!«
»Du
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