Loretta Chase

längst nicht mehr so verlockend.
    Die Sonne
strahlte bereits hell zum Fenster herein, als sie sich endlich in der Lage sah,
dem Tag entgegenzutreten.
    Bailey kam
mit dem Frühstückstablett herein. Darauf lag ein Brief.
    Adressiert
war er an »Miss Carsington«. Die präzis gespitzte Handschrift war ihr nur allzu
vertraut.
    Olivia
brach das Siegel, faltete den Brief auseinander und las:
    Alnwick
    Dienstag, 11. Oktober
    Liebe Olivia,
    wenn du
dies liest, werde ich bereits aufgebrochen sein, da ich Gorewood rechtzeitig
erreichen möchte, um noch bei Tageslicht eine erste Bestandsaufnahme machen zu
können. Etwas verspätet kam mir der Gedanke – oder auch nicht verspätet, da ich
ja ein Mann und somit schwer von Begriff bin –, dass wir überhaupt keine
Vorstellung davon haben, wie es um die Ausstattung der Ruine bestellt ist. Das
Mobiliar dürfte vermutlich dürftig sein. Weshalb ich wohl an deinen guten Willen
an dich appellieren
muss, in Edinburgh ein paar Einkäufe für mich zu tätigen. Nichols hat bereits
eine vorläufige Liste angefertigt, die ich beilege. Nach unserer Ankunft wird
er ein vollständiges Inventar erstellen, das ich dir nach Edinburgh schicken werde.
Da ich es gewohnt bin, bei den Ausgrabungen auf Decken oder Feldbetten zu
campieren, sind meine Ansprüche an Komfort eher bescheiden. Entscheidungen
hinsichtlich Stil und Farben bleiben ganz dir überlassen – und sollte dir noch
etwas einfallen, das wir vor Ort benötigen könnten, sei bitte so frei, es
deinen Einkäufen hinzuzufügen. Zweifelsohne dürfte dein diesbezüglicher
Geschmack dem meinen überlegen sein.
    Ich habe
auch Mains, dem Verwalter meines Vaters in Edinburgh, eine Nachricht zukommen
lassen und ihn von deinem Auftrag in Kenntnis gesetzt. Alle Rechnungen können
direkt an ihn geschickt werden. Ich bin zuversichtlich, dass er dir in allen
Belangen gern behilflich sein wird. Seine Anschrift findest du auf Nichols’
Liste. Ich freue mich, dich in ein oder zwei Wochen auf der Burg des Grauens zu
sehen. Dein L.
    »Also
wirklich, Lisle«,
sagte Olivia. »Diese durchgestrichene Stelle ist ja so was von kindisch. Und
doch ...« Sie überlegte. »Ganz so dumm bist du dann doch nicht. Offensichtlich
bist du dir deines Fehlverhaltens bewusst, was mich freut. Wie sagt man so
schön? Aus den Augen, aus dem Sinn.«
    »Miss?«,
fragte Bailey leicht irritiert.
    Olivia
wedelte ihr mit dem Brief vor der Nase herum. »Kleine Verschnaufpause, Bailey.
Er ist weg und wir dürfen nach Herzenslaune einkaufen gehen.«
    Edinburgh, 12. October
    Lieber Lisle,
    Statt
die Damen einer weiteren ganztägigen Tortour in der Kutsche zu Unterwerfen, habe ich beschlossen,
Edinburgh in Etappen zu erreichen. Heute am späten Nachmittag sind wir
eingetroffen – und ach, welch herrlicher Anblick uns empfing – ganz so, wie
Scott es beschrieben hat:
    In
dämmrige Pracht gehüllt die Höhe,
    Auf welcher stolz das Schlosse thront,
    Und
ganz den steilen Hang hinab,
    Der bucklig sich zum Himmel hebt,
    Schmiegt drunten
tief sich ein,
    Eng
geduckt und luftig hoch,
    Meine
romantische Stadt.
    Wie du
dich vielleicht erinnerst, war ich als Kind schon einmal zu Besuch, doch
erinnere ich mich so spärlich, dass ich dachte, ich hätte alles nur geträumt : wie das Schloss oben auf dem Great
Rock thront, sich aus Dunst und Rauch erhebt, die Giebel und Türme, die aus dem
Nebel ragen, die Altstadt mit ihren schmalen, hohen Häusern, die sich an den
Hang schmiegen. Doch genau so war es: Es muss dies die Unglaublichste Stadt
der Welt sein – und ja, ich behaupte, dass nicht einmal die Sphinx ihr
atmosphärisch das Wasser reichen kann.
    Doch ich
weiß, dass meine Ergüsse dich entsetzlich langweilen . Deshalb werde ich jetzt zum
Geschäftlichen kommen. Die pittoreske Altstadt bietet Läden für Alles, Was
Das Herz Begehrt . Noch mehr Geschäfte finden sich in der Weitaus Weniger
Romantischen Neustadt im Nordwesten Edinburghs. (Hier hat übrigens dein Cousin
gelebt, in einem sehr Eleganten Haus, bis unters Dach mit alten Büchern und
Papieren angefüllt.) Zweifelsohne sollte unser dringlichster Bedarf nach
ein paar Tagen Einkäufen gedeckt sein.
    Ich
werde dir alles vorausschicken – bis auf jene Dienstboten, die wir nicht
entbehren können .
Edwards, der als Butler fungieren soll, dürfte es ein Anliegen sein, das
Schloss vor unserer Ankunft wohnlich herzurichten. Derweil werde ich der
Dienstbotenbörse einen Besuch abstatten und unseren Bedarf anmelden. In
Anbetracht dessen, dass