Loretta Chase
den Lippen, dann das Schienbein. Er hörte
sie nach Atem ringen. Auch er war mit einmal außer Atem, so heftig pochte ihm
das Herz in der Brust, trieb ihm alles Blut kopfabwärts und immer weiter hinab.
Vorsichtig stellte er den Fuß auf dem Handtuch ab und erhob sich mit
geschmeidiger Anmut.
Es war
falsch. Falsch, falsch, so falsch. Ihr gegenüber unfair, ihm gegenüber unfair,
allen gegenüber unfair. Aber es war geschehen, bevor er sich hatte beherrschen
können. Ein Glück, dass sein Gehrock verbarg, was sie ihm angetan hatte –
beziehungsweise, was er sich selbst angetan hatte.
»Jetzt
dürften wir quitt sein«, sagte er beiläufig. Und damit schlenderte er hinaus,
kühl und beherrscht, während in ihm ein Wüstensturm toste.
Sowie die Tür sich hinter Lisle
geschlossen hatte, öffnete sich jene zum Nebenzimmer und Bailey huschte heraus.
»Es tut mir
leid, Miss«, sagte sie, »aber ich dachte, ich sollte lieber nicht ...« Olivia
hob beschwichtigend die Hand. »Schon gut«, sagte sie und erkannte ihre Stimme
kaum wieder. Außer Atem klang sie, weil ihr das Herz noch immer so schmerzlich
schwer, so schnell schlug. »Er ...« Sie verstummte wieder.
Was zum
Teufel hatte er sich dabei gedacht? Wenn sie sich recht erinnerte, waren sie
übereingekommen, dass die Episode in Stamford ein Schrecklicher Fehler gewesen
war. Aber sie hatten eine Grenze überschritten ... und er war eben ein Mann,
und wenn man einen Mann erstmal auf gewisse Gedanken gebracht hatte – ach,
Unsinn! Männer hatten doch immer solche Gedanken. Trotzdem hätte er fortan
Distanz wahren sollen.
Ganz gewiss
hätte er sie nicht verführen sollen, dieser Dummkopf!
Ob es als
Entschuldigung gedacht war oder er es ihr nur hatte heimzahlen wollen – er ging
ein aberwitziges Risiko ein. Und das auf Kosten ihrer Zukunft! Und seiner. » Männer« ,
schnaubte sie.
»Ja, Miss«,
sagte Bailey.
»Vermutlich
war es meine Schuld.«
»Das kann
ich nicht sagen, Miss.«
»Du musst
wissen, dass ich ziemlich wütend war.«
»Ja, Miss.«
»Was er zu
mir gesagt hat ...« Der Gedanke daran schmerzte noch immer.
»Ja, Miss.«
»Ich hätte
meine Füße bedecken sollen, als er hereinkam. Oder zumindest meine Röcke
herabziehen.«
»Ja, Miss,
doch das hätte ich tun sollen, aber ich habe Sie im Stich gelassen.«
»Es war
nicht deine Schuld, Bailey. Ich bin eine DeLucey. Da kann ich mir noch so viel
Mühe geben, anders zu sein, die Ungeheuerliche DeLucey kommt immer durch. Er
hat mich verletzt, und da musste ich es ihm heimzahlen, indem ich ihn
provoziert habe. Wie töricht von mir! War es mir nicht schon auf Urgroßmamas
Feier klar gewesen? Hatte ich es ihm da nicht deutlich auf die Stirn
geschrieben gesehen? Gefahr stand da, ganz groß und deutlich. Nicht mit
diesem Feuer spielen. Jede DeLucey hätte es auf den ersten Blick erkannt. Das
Problem ist nur, dass eine echte DeLucey es trotzdem getan hätte.«
»Ja, Miss.«
»Es ist so
ungeheuerlich schwer, einem Wagnis zu widerstehen.«
»Ja, Miss.«
»Aber er
ist etwas zu gewagt.«
Die
vertrauliche Berührung seiner allzu geschickten Hände, unerträglich. So
bedächtig und methodisch. Wenn er eine Frau verführen würde, würde er es genau
so machen. Bedächtig. Methodisch. So wie er sie auch an besagtem Abend geküsst
hatte: mit absoluter Konzentration und Hingabe. Unerbittlich.
»Wie man es
macht, macht man es falsch«, fuhr sie fort. »Wenn man verheiratet ist, kann man
Affären haben. Aber heiratet eine Frau, kann sie dennoch nur verlieren. Einmal
die falsche Karte gespielt – den falschen Mann geheiratet –, und man bringt den
Rest seines Lebens in der Hölle zu, mal schlimmer, mal weniger schlimm, aber
immer die Hölle.«
»Wohl wahr,
Miss«, sagte Bailey, die keine besonders hohe Meinung von Männern hatte. Was
kein Wunder war. Mit ansehen zu müssen, wie Männer sich Olivia gegenüber
aufführten, dürfte jeder jungen Frau noch die letzten Illusionen rauben.
»Dennoch, Mylady, Ihre Mutter ...«
»Bitte nimm
nicht Mama als Beispiel«, unterbrach sie Olivia. Mama galt nicht. Sie hatte die
Liebe ihres Lebens gefunden. Zweimal. »Das kann man überhaupt nicht
vergleichen. Mama gehört zu den Guten.«
Dienstag, 11. Oktober
Olivia hatte vor Tagesanbruch aufstehen
wollen, wie sie es schon die vergangenen zwei Tage getan hatte. Doch heute
schien ihr die Aussicht darauf, die beiden alten Damen zu nachtschlafender
Stunde aus den Federn zu scheuchen und sich mit Lisle eine Verfolgungsjagd zu
liefern,
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