Loretta Chase
sie beständig beobachteten. Auf dem
Weg zur Schule und zurück machte sie allerlei Umwege und Abstecher, von denen
ihrer Mutter zu erzählen sie wohlweislich vergaß und die er erschreckend und
faszinierend zugleich fand.
Er schlug
sich in die Büsche, wo niemand ihn sehen konnte, und öffnete ihren jüngsten
Brief.
Queen Square Donnerstag,
4. Oktober
Mylord,
leben Sie wohl!
Die Zeit des Abschieds ist gekommen, dieweil ich Aufbrechen werde, mich auf meine Schatzsuche zu begeben.
»Nein«, sagte Peregrine. »Nein.«
Zwei lange
Briefe hatte er ihr geschrieben, in denen er ihr ausführlich erklärt hatte,
weshalb ihre Idee, den Schatz Edmund DeLuceys finden zu wollen, ein Fehler sei.
Zuallererst einmal begaben junge Damen – und sie war von Geburt her eine junge
Dame, was sie niemals vergessen dürfe – sich nicht ohne Begleitung auf derlei Ausflüge.
Zweitens müsse sie den Kummer bedenken, den sie ihrer Mutter damit bereiten
werde, die (anders als manch andere Eltern) doch sehr nett, klug und vernünftig
sei. Er hatte noch einen dritten, vierten und fünften Punkt hinzugefügt – alles
reine Verschwendung von Zeit und Tinte.
»Ebenso gut
hätte ich dem Kopf des jungen Memnon schreiben können«, brummelte
Peregrine.
Seien Sie versichert, Sir, dass ich Jedes
Wort, welches Sie mir geschrieben haben, gelesen und bedacht habe. Dennoch: Die
Lage Hat Sich Zu Einer Krise Zugespitzt. Am Montag sind wir an den Queen
Square in Bloomsbury gezogen. Unsere neue Wohnung ist sehr behaglich, und zumindest
ich bin sehr froh, etwas Abstand zwischen meinem Zuhause und dem Arbeitshaus
von St. Sepulchre gewonnen zu haben. Doch Mama wird jeden Tag Unglücklicher.
Ich fürchte, sie Kränkelt und könnte einer schleichenden Krankheit erliegen.
Sie gibt vor, zu essen und zu schlafen, aber das ist alles Täuschung, denn sie wird immer dünner und blasser. Ich bin nur froh, dass Papa das nicht
mehr erleben muss – es würde ihm das Herz brechen. Selbst Sie müssen
unter den gegebenen Umständen zugeben, dass ich Nicht Einen Augenblick Zu
Verlieren habe und SOFORT aufbrechen muss. Seien Sie versichert, dass
ich mir Ihre Worte zu Herzen genommen habe und diese Reise nicht Allein
unternehmen werde. Sir Olivia reist mit ihrem Treuen Knappen Nat Diggerby. Sein
Onkel fährt jeden Montag und Freitag mit dem Karren auf den Markt. Wir haben
verabredet, ihn morgen an der Mautschranke von Hyde Park Corner zu treffen. Er
wird uns bis Hounslow mitnehmen. Ein Wohldurchdachter Plan, wie Sie mir gewiss
zustimmen werden.
»Nein, tue ich nicht, du dummes
Mädchen«, sagte Peregrine. »Was soll denn hinter Hounslow aus dir werden –
wenn du überhaupt so weit kommst? Hast du dir schon mal Gedanken darüber
gemacht, dass dein Treuer Knappe Diggerby dich auch zu seinem ,Onkel', dem
Zuhälter, oder seiner ,Tante', der Bordellwirtin, bringen könnte?«
Angesichts
dessen, was sie sonst so wusste, konnte Peregrine es kaum fassen, dass sie nun
so naiv war. Er vermutete stark, dass diese Wissenslücke daher rührte, dass sie
nie auf dem Internat gewesen war, wo Jungen nämlich nicht nur Griechisch und
Latein lernten, sondern auch alles, was man über Zuhälter, Puffmütter und
Prostituierte wissen musste.
Doch ihm
blieb keine Zeit mehr, sie darüber aufzuklären.
Das
unbedachte Geschöpf wollte heute aufbrechen.
Er musste
sie aufhalten.
Nach einer halben Stunde gab Bathsheba
es auf, noch länger auf Lord Lisle zu warten. Anscheinend hatte es ein
Missverständnis gegeben. Sie hatte gedacht, er hätte gesagt, dass er am Samstag
nach Schottland reise. Wahrscheinlich hatte er Freitag
gesagt, und sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört, in Gedanken anderswo. Sie
konnte sich nicht erinnern, ob er sich das letzte Mal schon verabschiedet
hatte. Aber warum sollte ein dreizehnjähriger Junge es auch für nötig halten,
von seiner Zeichenlehrerin Abschied zu nehmen? Sein Onkel hatte dies bereits
sehr höflich getan, ein paar Tage nach ihrer letzten Begegnung. Oder vielmehr
sein Sekretär hatte einen gebührlichen Dankesbrief geschrieben, einschließlich
der noch ausstehenden Zahlungen für die vereinbarten Stunden.
Sie packte
ihre Sachen zusammen, schloss das Klassenzimmer ab und machte sich auf den Weg
nach Hause. Ihrem neuen Zuhause, das sie Lord Rathbourne verdankte
... den sie nie wiedersehen würde.
Er würde
sich von ihr fernhalten, und sie hätte nichts mehr zu fürchten. Sie war in
Sicherheit.
Und
gelangweilt und verstimmt ... bis sie
ein paar
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