Lost Land, Der Aufbruch
hassen? Sollte er Chong die Schuld geben?
Er prüfte sein Herz, ob er Hass darin entdeckte, doch er fand einfach keinen. Chong hatte das alles nie gewollt. Er hatte nur nach Hause gewollt, um nicht länger ein Problem für alle anderen zu sein. Sonst nichts. All das hier hatte er nicht gewollt. Benny liebte Chong noch immer. Es würden Scherben und Narben zurückbleiben, aber Chong war Chong und Benny war Benny. Sie würden immer zu zweit sein, weitermachen, nicht stehen bleiben. Erwachsen werden.
Das Laken, das Toms Körper bedeckte, bewegte sich nicht. Kein Lüftchen regte sich, der Stoff flatterte nicht.
»Bitte«, flüsterte Benny.
Ich werde versuchen, nicht zurückzukommen. Benny streckte die Hand aus und griff nach dem Gegenstand, den Dr. Skillz ihm dagelassen hatte. Es war ein Pflock, poliert und kühl. Der Griff war stumpf, das andere Ende spitz zugeschliffen und scharf. Ein schönes, handwerklich gut gemachtes Objekt. Aber zugleich auch ein hässliches Ding, das einen schrecklichen Zweck erfüllte.
Benny behielt den Pflock in der Hand, während er aufstand und wartete. Die Sekunden vergingen wie Blätter an einem sterbenden Baum. Er spürte, wie sich in seiner Brust etwas veränderte. Sein Herz sackte von dort, wo es gewöhnlich war, an einen tieferen, dunkleren Ort. Und dort, das wusste er, würde es bleiben.
Die ganze Welt war dunkler geworden.
Ich werde versuchen, nicht zurückzukommen.
Benny drückte das kalte Metall des Pflocks gegen seine Stirn und schloss die Augen. »Gott«, flüsterte er, »bitte â¦Â« In letzter Zeit hatten sie erlebt, dass mehrere Tote nicht zurückgekehrt waren. Die Mehrzahl hatte sich verwandelt, aber eben nicht alle. Nicht alle.
DrauÃen hörte er die ersten Vögel, die den Morgen begrüÃten. Die Welt erwachte, kümmerte sich nicht darum, was passiert war. Benny schaute zu den geschlossenen Fenstern und fragte sich, wie die Natur so dumm und so grausam sein konnte. Wiekonnte der Tag einfach anbrechen, als sei nichts geschehen? So vieles war zerbrochen und beendet â warum nicht auch die Zeit? Tom lebte nicht mehr. Seine innere Uhr hatte angehalten, also hätte auch die Welt anhalten müssen. Aber sie drehte sich weiter.
Tränen brannten in Bennys Augen.
Ich werde versuchen, nicht zurückzukommen.
Ich werde es versuchen.
Das Laken regte sich nicht. Langsam, ganz langsam sank Benny auf die Knie. Den Pflock in der rechten Hand, streckte er die linke Hand aus und nahm einen Zipfel des Stoffs zwischen die Finger. Die Tränen brannten wie Eis auf seinen Wangen.
»Es tut mir leid«, sagte er mit einer Stimme, die kaum zu hören war.
Dann zog er das Laken zurück. Tom Imuras Gesicht wirkte völlig entspannt, er hatte die Augen geschlossen und die Lippen leicht geöffnet. Benny schluckte und umschloss den Pflock fester. Jede Sekunde musste es so weit sein.
Er wird zurückkommen, dachte Benny. Die Welt ist, wie sie ist, und die Seuche wird nie enden. Er wusste, dass das, was er gleich tun musste, sein Ende sein würde â nicht Toms Ende, sondern sein eigenes. Benny schaute in die Zukunft, sah diesen schrecklichen Augenblick vor sich und wusste, dass ihn danach nur noch Finsternis erwartete.
»Es tut mir leid«, sagte er wieder, beugte sich hinab und küsste Tom auf die Stirn. »Ich liebe dich, Tom. Ich wünschte, ich hätte es dir öfter gesagt.«
Benny drehte Tom auf die Seite, um die empfindliche Stelle an der Schädelbasis freizulegen. Den Optimalpunkt, wie Tom immer gesagt hatte. Er wiegte Toms Kopf in seinem SchoÃ.
Ich werde versuchen, nicht zurückzukommen.
Benny kniete auf dem Boden, hielt seinen Bruder, hielt den Pflock.
Und wartete auf den grausamen Augenblick.
2   Fünf Minuten später drückte Benny Imura die Tür auf und trat hinaus in die Morgensonne. Noch immer hielt er den Pflock in der Hand. Nix machte einen Schritt auf ihn zu und blieb dann stehen. Benny war vollkommen bleich, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Mund stand offen.
»Benny �«
Chong kam einen Schritt näher, aber Lilah hielt ihn zurück. Ãberraschenderweise packte sie ihn nicht am Arm, sondern nahm seine Hand.
»Benny?«, flüsterte Nix.
Er hob den Blick und sah sie an. Seine Augen waren feucht und schauten gequält.
»Benny«?, fragte sie erneut.
Er fuhr sich mit der Zunge über die
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