Lost Place Vienna (German Edition)
Alberto nichts aus, zuzuschlagen. Er
konnte sich nicht mehr erinnern, wann er den ersten Menschen getötet hatte. An
den letzten erinnerte er sich allerdings noch: Zirner, der besoffene Bulle.
Es war ein Kinderspiel gewesen, beinahe langweilig. Das Einzige,
worin Alberto einen Hauch von Ästhetik auf dieser Welt entdecken konnte, war
Gewalt. Vielleicht noch Sex. Aber auch da musste es zur Sache gehen.
Er starrte auf das Foto einer Stahl-Glas-Konstruktion, die sich in
New York befinden sollte, und stellte sich vor, wie er die Fenster dieses
hässlichen Klotzes mit dem Baseballschläger zertrümmerte. Ein zischendes Lachen
entglitt ihm. Dann blickte er wieder in Richtung der jungen Frau, die er zu
überwachen hatte.
Er wunderte sich, warum man wegen ihr so einen Aufstand machte.
Warum schnappte man sie sich nicht einfach und sprach Klartext mit ihr? Mit ihm
hatte man auch nicht viel Federlesens gemacht. Zampa war eines Tages in der
Eisdiele von Albertos Eltern gestanden und hatte die Lage erklärt. Und seine
Argumente waren sehr überzeugend gewesen. Zampas Kredit für die neue
Inneneinrichtung der Eisdiele war dann zwar sehr großzügig gewesen, aber die
Zinsen hatte von da an Alberto abzutragen gehabt.
Im Grunde war Alberto froh darüber gewesen, dass Zampa gekommen war.
Auch wenn seine Mutter sich erst die Augen ausgeweint hatte und nichts mit der
Mafia zu tun haben wollte. Alberto hatte gerade mit viel Mühe die Hauptschule
abgeschlossen, eine Lehre als Dachdecker abgebrochen und war dazu verdammt,
Eiskugeln in Pappbecher oder Waffelhörnchen zu stopfen. Zampa hatte ihm die
Möglichkeit gegeben, mit anderen Kugeln zu hantieren. Nicht nur dass Alberto
fand, der Umgang mit einer Knarre sei eines Mannes würdiger, als sich die Beine
hinter einem Eistresen in den Bauch zu stehen. Es war auch das Gefühl von
wiedergewonnener Heimat. Einer Heimat, aus der er vertrieben worden war. Jungs
wie er liebten die Mythen, die sich um die Mafia rankten. Den »Paten« kannten
sie alle, und »Scarface« gehörte zum Zitatenschatz wie das Ave-Maria an Ferragosto . Auf Bücher wie »Gomorrha« schiss Alberto. Er
wusste selbst, wie die Realität war, dazu brauchte er keinen Journalisten, der
ihm das erklärte. Alberto war bei der Familie, weil er aus der Realität hatte
flüchten wollen; und seinen Traum ließ er sich von keinem Aufklärer der Welt
nehmen.
Alberto spürte, wie sein Auge ermüdete. Es war anstrengend, mit nur
einem Auge zu beobachten. Das Glasauge hatte man ihm erst vor drei Monaten
eingesetzt, nach einer Messerstecherei in Paris. Alberto hatte gleich gerochen,
dass mit den Algeriern kein leichtes Spiel zu schaukeln war. Aber Enrico,
Zampas Sohn, hatte darauf bestanden, Ernst zu machen. Enrico war ein Idiot, mit
Zampa überhaupt nicht zu vergleichen. Aber er war der älteste von Zampas Erben,
also galt ihm das Vertrauen. Rom war auf diese Art untergegangen, das wusste
Alberto. So viel Geschichte hatte er dann doch mit auf den Weg bekommen. Er
mochte die Antike, auch deren Gebäude. Scheiß auf die Stahl-Glas-Konstruktionen
der Moderne, fluchte Alberto und klappte das Buch lauter zu, als er wollte.
Die Frau, die am Tisch neben Valentina saß und in ihren Reiseführern
blätterte, blickte von dem Knall aufgeschreckt zu ihm herüber. Er lächelte
unterwürfig und dachte gleichzeitig daran, dass die Puppe es ordentlich besorgt
kriegen müsste. Weswegen saß man sonst allein in einer Buchhandlung?
Alberto stellte das Buch wieder an seinen Platz und zog sich zurück.
Es passte ihm nicht, dass die Frau ihn angeschaut hatte. Ebenso hätte es
Valentina sein können. Und wenn sie ihn gesehen hätte, wäre für ihn eine
weitere Beschattung unmöglich gewesen. Man durfte sich nur einmal bewusst sehen
lassen, dann war es vorbei. Entweder man musste es dann sein lassen oder
zuschlagen. Und bei Valentina durfte er nicht zuschlagen, sie wollte man
lebend.
Er stand jetzt bei den Sportbüchern. Dort war er weit genug
entfernt, um von Valentina nicht versehentlich ertappt zu werden, und konnte
sie dennoch gut beobachten. Sie aß noch immer von dem Apfelstrudel, den der Kerl
übrig gelassen hatte.
So etwas tat man nicht, fand Alberto. Man aß nicht die Reste der
anderen. Man konnte für andere Drecksarbeit machen, das ja, aber beim Essen
wahrte man seinen Stolz. Alberto blickte sich um, er suchte nach den
Kochbüchern. Plötzlich hatte er heimatliche Gefühle. Die italienische Küche war
etwas, worauf man stolz sein konnte, und
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