Lost Vampire - Das Ende der Welt
vielleicht?“, sagte George schroff.
„ Warum so garstig?“ Der attraktive Blonde neigte sich zur Seite und grinste an George vorbei zu Ever. „Hey, hübsches Mädchen. Ich bin Samuel Shaw. Sam reicht vollkommen. Der Griesgram und ich waren...“
„ Oh nein“, grollte George und stemmte einen Arm zwischen sie und Sam. Ever hörte das Holz knacken, wo seine Hand den Türrahmen umschloss. „Keinen Schritt weiter. Keine charmante Vorstellung. Keine fünf Minuten.“
Sie hatte den Vampir noch nie derart aggressiv erlebt. George war zuvorkommend und gelassen auf einer Ebene, die ihr gelegentlich Kopfzerbrechen bereitete. Ein vorbildlicher Gentleman. Doch sie wurde manchmal das Gefühl nicht los, dass er zu sehr darum bemüht war, höflich zu sein. Gerade wenn es um seinen Ruf bei ihren Freunden und den Bewohnern von Torch Creek ging. Dieser George hingegen strahlte schier rohen Zorn aus, was Ever völlig überraschte. Es wallte sogar eine gewisse Faszination in ihr auf, die sie jedoch schnell beiseite schob.
„ Okay, okay, vielleicht sind wir zuletzt ein wenig unschön auseinandergegangen.“ Abwehrend erhob der fremde Mann die Hände. Selbst in dieser aufgeladenen Situation fiel Ever auf, dass Sam ausgesprochen attraktiv war. Seine scharfen Gesichtszüge waren maskulin und auf eine zeitlose Art und Weise makellos, die sie bisher nur von James kannte. Sein Körper war durchtrainiert und die wenigen Bewegungen, die Ever beobachten konnte, schienen wie eine perfekte Choreografie.
„ Du hast in Boston einen Melassetank explodieren lassen, nur weil es dir wie eine gute Metapher erschien“, entgegnete George trocken.
Im Januar 1919 war im Bostoner Hafenviertel ein Melassetank explodiert und Millionen Liter des klebrigen Zuckersirups überschwemmten das North End. Die schwarze Flut hatte in einer neun Meter hohen Welle Häuser und Menschen niedergewalzt – zurück blieb nur Verwüstung. Wie riesenhafte Granatensplitter umherfliegende Eisenteile hatten sogar die Hochbahn zum Einsturz gebracht und einen Zug aus den Schienen gehoben. George erinnerte sich schmerzhaft, wie inmitten der zähen Springflut immer wieder amorphe, zuckende Gebilde zum Vorschein kamen. Man konnte nicht mehr erkennen, ob es Mensch oder Tier war, was sich da in Panik freizukämpfen versuchte und dabei nur tiefer in der schwarzen Masse versank.
„ Der süße Tod – ein Missverständnis“, beteuerte der andere mit einem grausamen Grinsen.
„ Willst du ihn nicht zumindest hereinlassen, bevor die Nachbarn sich wundern?“, warf Ever plötzlich ein. „Ich glaube, ich kann Miss Brooks schon hinter ihrer Verandatür sehen.“
„ Eine Frau mit Köpfchen“, stellte Sam begeistert fest. „George hatte schon damals in Fort Bragg ein Auge auf...“
„ Spar' dir die Show und komm' rein, Sam.“ Der Vampir seufzte und ging einen Schritt zur Seite.
„ Nichts lieber als das.“ Sams Mimik verschob sich zu einem Ausdruck zwischen Überraschung und Neugier. Beim Vorbeigehen roch seine Kleidung nach Asche und Benzin. Ever suchte den Augenkontakt mit George, doch konnte sie in dessen Gesichtsausdruck nichts als Vorsicht lesen.
„ Bring mir ein Bier, Kleine“, sagte Sam in einem selbstverständlichem Tonfall.
„ Mein Name ist Ever.“
„ Werde ich mir merken, Kleine“, entgegnete Sam ohne sie anzusehen. Seine Stiefel hinterließen eine Spur von Staub und Dreck auf dem Fußboden, während er vom weiten Flur ins Wohnzimmer schritt. Dann klopfte er an die verglaste Fensterfront zum Garten. „Du bist häuslich geworden, wie ich sehe. Bekommst du reichlich Sonne?“
„ Was willst du, Sam?“, wollte George mit leicht verbissener Miene wissen.
„ Darf ich nicht einfach meinen besten – und einzigen – Freund besuchen?“ Der Mann ließ sich aufs Sofa fallen und legte die Füße auf den Tisch. „Vor allem, nachdem ich jahrzehntelang das ganze Land durchstöbern musste, um dich ausfindig zu machen.“
„ Ihr kennt euch schon lange?“, fragte Ever und zwang den Besucher dazu, sie zu beachten.
Tatsächlich funkelten seine stahlblauen Augen sie jetzt gefährlich und durchdringend an. „Ach, nicht sonderlich“, sagte Sam scheinbar ruhig und musterte Ever. „Zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig Jahre.“ Für einen Moment wartete er auf eine Reaktion von ihrer Seite, doch Ever hielt es für klüger, keine weiteren Fragen zu stellen, deren Antwort sie vermutlich gar nicht hören wollte.
Nach einer Minute des Schweigens wandte
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