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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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sitzen bleiben.« Die Trägerin einer Louis-Vuitton-Tasche: »Ich hatte eine Fehlgeburt, aber das weiß eigentlich niemand.«
    Plötzlich kommt alles raus. All die versteckten kleinen Geheimnisse von Bullerbü kommen ans Tageslicht. Als würde ein Bekenntnis andere nach sich ziehen. Als wäre »behindert« ein Zauberwort, das Münder öffnet und Herzen aufschließt. Als müssten die, mit denen ich offen rede, selber offen reden, wie unter Zwang.
    Wir sind nicht die Einzigen. Wir haben ein behindertes Kind. Ein süßes, kleines, behindertes Mädchen, das uns morgens mit einem Lächeln begrüßt. Wir haben keinen Krebs, keine Fehlgeburt. Wir haben kein schlimmes Schicksal.
    Vielleicht wollen einige keine Obdachlosen vor dem Kindergarten sehen, weil es sie daran erinnert, wie zerbrechlich ihr Glück ist. Vielleicht denken viele, die Behinderte anstarren, gar nicht an Abtreibung oder Pränataltests. Vielleicht starren sie zwar uns an, denken aber an sich selbst. An den dementen Vater, das ungeborene Wunschkind, an die eigene Angst vor dem Alter. Vielleicht braucht es nur ein Wort, um sie zum Reden zu bringen.

16

»Bitte lass es aufhören«
Lotta leidet – und was ist mit Ben?
    Ende April 2011. Harry muss nach Ägypten. »Nur Alexandria, nicht Kairo«, sagt er. Während wir mit dem Wort Behinderung und dem Reha-Buggy gehadert haben, ist auf der arabischen Halbinsel die Revolution ausgebrochen. In Ägypten scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein, Harry soll über den neuen Alltag an der deutschen Schule berichten. »Wenn es gefährlich wäre, würde ich nicht fahren«, sagt Harry. »Geri passt ja auf mich auf.« Ein alter Freund von mir aus Journalistenschulzeiten. Er arbeitet dort als freier Producer und Journalist.
    Kurz bevor Harry fährt, gibt es wieder Tote in Kairo. Neue Unruhen. »In Alexandria ist alles ruhig«, sagt er. »Kommst du hier klar?«
    »Pass auf dich auf, ja? Sei bloß nicht mutig.«
    Jodi verspricht, ihr Handy immer bei sich zu tragen: »Falls irgendwas ist.«
    Meine Mutter: »Soll ich meinen Urlaub verschieben?«
    »Unsinn, wir kommen schon klar.«
    Der Großvater will für uns einkaufen gehen.
    »So weit kommt’s noch.«

    Ich komme sehr gut klar. Wieso auch nicht. Zwei Tage vergehen. Ich bringe beide Kinder abends ins Bett und sehe die Tagesschau. Nichts über Alexandria. Am Telefon sage ich Harry Gute Nacht. Er ist noch unterwegs. »Ich kann jetzt leider nicht so lang sprechen.«
    »Kein Problem.« Ich lege das Handy auf meinen Nachttisch. Lotta schnarcht leise.
    Ich erwache davon, dass die Matratze bebt. Ein leichtes Zittern. Ein Röcheln. Es ist dunkel. Ich taste nach Lotta, ihren Haaren, ihrem Kopf. Krampft sie? Ich finde mein Handy und leuchte Lotta mit dem Schein des Displays ins Gesicht. Ihre Augen sind nach oben verdreht, Kopf im Nacken, ihr Atem rasselt. Auf der anderen Seite seufzt Ben im Schlaf. Er muss nachts heimlich zu mir ins Bett geschlüpft sein, ohne dass ich es gemerkt habe.
    Ohne dass ich es gemerkt habe – wie lange krampft Lotta schon?
    Ich nehme sie und trage sie in ihrem Schlafsack nach unten. Ihr Körper bebt. Die Treppe knarrt. Hoffentlich wird Ben nicht wach. Ich lege sie auf den Wohnzimmerteppich, in stabile Seitenlage. Wie viel Uhr ist es? Wo ist mein Handy? Ich renne in die Küche. Die Uhr zeigt 6.10. Ich nehme eine Rektiole Diazepam aus dem Kühlschrank. Dr. Waltz hat sie für den Notfall verschrieben. Wenn der Krampf nach fünf Minuten nicht aufhört, soll ich sie geben. Ein krampflösendes Mittel, im Grunde ist es Valium. Ich renne zurück zu Lotta. »Ssschhh, scchhhhh!« Ich nehme sie auf meinen Schoß. Wiege sie hin und her. »Mama ist ja da.« Ihre Füße zucken. Wie viel Uhr ist es? Ich renne zurück, Lotta auf dem Arm. 6 Uhr 12. Wie lange waren wir oben wach? Wie lange hat sie schon gekrampft? Ich lege sie vor mich und öffne ihre Pampers.
    Die Rektiole wirkt nicht. Lotta zuckt weiter. Wieder in die Küche. Wo ist das Telefon? Ich nehme Lotta wieder auf den Schoß. 112. »Guten Tag, Sandra Roth, wir brauchen sofort einen Notarzt.«
    Ich rufe Jodi an. Es klingelt viermal, dann geht sie verschlafen ran. »Kommen Sie schnell, nehmen Sie ein Taxi.«
    Ich rufe Harry in Ägypten an. Er ist sofort hellwach. »Wie geht es ihr?«
    »Ich kann jetzt nicht lang reden. Ich habe Jodi schon angerufen, ich ruf dich später wieder an.«

    Ich lege Lotta wieder auf die Seite, ich renne zum Fenster, blauer Lichtschein nähert sich. Ich öffne die Haustür und lasse sie offen

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