Lotterie der Liebe
Empfangszimmer liegen gelassen”, murmelte sie. “Wie dumm von mir! Jetzt muss ich wirklich warten, bis dein Bruder seine Gäste verabschiedet hat, damit ich es holen kann.”
Es war ungewöhnlich, dass Richard seine Bekannten daheim empfing, da er es im Allgemeinen vorzog, bei White’s oder Boodle’s zu spielen. Amy erinnerte sich nicht, wann er zum letzten Mal Besuch gehabt hatte.
“Lass es dir von Prudence bringen”, schlug Amy vor. Prudence Quiller war eine Furcht einflößende Person, die ebenso gut zur Zofe wie zur Wischmagd taugte und ständig alles missbilligte. Im Stillen schmunzelte Amy bei dem Gedanken, wie Prudence auf den Anblick der Herren reagieren würde.
Lady Bainbridge strahlte, setzte dann jedoch ein bekümmertes Gesicht auf. “Oh ja! Das ist ein guter Einfall! Oh nein! Das geht nicht! Nachdem Prudence von einem von Richards Bekannten ins Gesäß gekniffen wurde, hat sie geschworen, nie den Fuß in einen Raum zu setzen, wo er und seine Gäste sich aufhalten. Sie hat dem Frechling eine Moralpredigt gehalten und ihn sowie alle anderen Anwesenden Wüstlinge und Tunichtgute genannt!”
“Der Mann hatte Mut!”, meinte Amy, fand die Vorstellung, dass einer von Richards Freunden der spitzgesichtigen Miss Quiller Avancen gemacht haben sollte, jedoch reichlich abwegig. Zweifellos hatte derjenige schon zu viel getrunken. “Nun, dann schick Marten”, fuhr sie fort. “Ich bezweifle sehr, dass man ihn in den Allerwertesten kneifen wird.”
“Natürlich nicht, aber er ist heute Abend bei seiner Schwester und noch nicht zurück.”
“Das Problem sollte doch zu lösen sein, Mama!”, erwiderte Amy ungehalten. “Lies doch einfach etwas anderes.”
Lady Bainbridge machte ein missmutiges Gesicht. “Oh nein, Amy! Du weißt, es gibt Lektüre, die kann man nur tagsüber lesen, und andere abends. Man kann sie nicht einfach austauschen.”
Amy stand auf, legte sich den Schal um und äußerte: “Also gut, dann gehe ich das Buch holen. Ich bin gleich wieder da.”
“Oh, Amy, mein Schatz!”, rief ihre Mutter entsetzt aus. “Du kannst nicht in den Empfangssalon gehen! Die Herren sitzen doch beim Kartenspiel!”
“Das ist mir geläufig, Mama.” Amys Miene verhärtete sich. “Ich vermute, Richard und seine Gäste werden so beschäftigt sein, dass sie mich gar nicht bemerken. Folglich wird keiner von ihnen mir gegenüber zudringlich werden.”
“Du hast recht, bisher hat noch nie ein Gentleman Interesse an dir bekundet!”, murmelte Lady Bainbridge. “Doch das gehört jetzt nicht hierher. Du kannst einfach nicht in ein Zimmer gehen, das voller Männer ist.”
“Einer davon ist mein Bruder, Mama”, sagte Amy trocken. “Sollte irgendetwas Unschickliches sich ereignen, werde ich ihn umgehend zu Hilfe bitten.”
Sie zog den Schal fester um die Schultern, verließ das Zimmer und begab sich nach unten ins Entree. Auf einem Konsoltisch am Fuß der Treppe stand ein Leuchter mit brennender Kerze. Als Amy sich im Wandspiegel darüber erblickte, fand sie, dass sie wie eine der Mumien aussah, die sie im vergangenen Jahr in der Ägypten-Ausstellung bestaunt hatte. Der Schal war breit, da sie sich gern in viel Stoff hüllte, um sich vor der Kälte, die gewöhnlich im Haus herrschte, zu schützen. Die Menge des Heizmaterials hing nämlich von der Menge des Geldes ab, das der Bruder verspielte.
Stimmen und Lachen drangen in den Gang, während sie sich dem Empfangssalon näherte. Es war, wie die Mutter bemerkt hatte, unpassend für eine unverheiratete Frau, einen Raum zu betreten, in dem sich ausschließlich Gentlemen aufhielten. Amy war jedoch der Ansicht, dass ihr Anblick kaum die Leidenschaft eines der betrunkenen Spieler wecken würde. Die meisten waren so konzentriert bei der Sache, dass sie Amy gar nicht bemerken würden, und für diejenigen, die sie vielleicht doch zur Kenntnis nahmen, war sie nur Richards langweilige Schwester, denn sie entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal.
Sie war eben unscheinbar und zurückhaltend. In der einzigen Saison, die sie in London verbracht hatte, war sie so still gewesen, dass einige unfreundliche Leute sie eine Langweilerin genannt hatten. Eine weitere Saison hatte es nicht für sie gegeben und somit auch keine Verehrer.
Sie machte die Tür auf und lugte ins Zimmer. Das Bild, das sich ihr bot, war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Luft war rauchgeschwängert und stickig. Durch das flackernde Kaminfeuer und die zahlreichen brennenden Kerzen
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