Lotterie der Liebe
spöttischem Blick. Amy empfand eine seltsame Mischung aus Neugier und Abneigung und kam sich trotz des dicken, anständigen Kleides und des sie umhüllenden Schals sehr verwundbar vor. Sie war erleichtert, als der hoch gewachsene Herr das Buch ihrer Mutter hinter dem roten Vorhang hervorzog und es ihr mit einer weiteren leichten Verneigung überreichte.
“Ich glaube, Sie haben das hier gesucht, Miss Bainbridge. Meine Empfehlungen an Ihre Mutter. Ich hoffe, die Lektüre hilft ihr einzuschlafen.” Er lächelte Amy an. “Sebastian, Duke of Fleet, zu Ihren Diensten.”
Der Duke of Fleet! Es gelang Amy, ein regloses Gesicht zu wahren. Wie Äußerlichkeiten doch täuschen konnten! Worauf hat sich Richard bloß eingelassen, dachte sie. Seine Gnaden und dessen Freunde galten als eingefleischte Spieler, die den Ruf hatten, Anfänger gnadenlos auszunehmen. Richard konnte man zwar nicht als einen solchen bezeichnen, denn als Sohn seines Vaters, eines berüchtigten Spielers, war er schon mit achtzehn Jahren in dessen Fußstapfen getreten und folglich kein Amateur mehr. Dennoch wusste Amy, dass er sich bislang nicht mit Leuten wie dem Duke of Fleet und dem Earl of Tallant abgegeben hatte. Beide verkehrten mit zwielichtigen Gestalten wie Golden Ball und Scrope Davies, Männern, die Tausende von Guineen an einem Abend verspielten. Solche Verluste konnte Richard sich nie erlauben.
Wider Willen richtete Amy den Blick auf den Gentleman mit den kastanienbraunen Haaren, der sie immer noch beobachtete. Sie drückte den Roman an die Brust und war lächerlicherweise verlegen. Wenn der Mann, der sich ihr gerade vorgestellt hatte, der Duke of Fleet war, dann musste der andere der Earl of Tallant sein.
Der Herr erhob sich und machte eine leichte Verbeugung. “Jonathan, Earl of Tallant, zu Ihren Diensten, Miss Bainbridge”, sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten. Seine Stimme hatte ein angenehmes Timbre, das Amy einen wohligen Schauer verursachte. Sie hatte einiges über den Erben des Marquess of Landor gehört. Wer nicht? Die Spielleidenschaft war angeblich nicht einmal sein größtes Laster. Er war darüber hinaus ein reichlich dem Alkohol zusprechender Weiberheld, der noch andere Untugenden hatte, über die man nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte. Als junger Mann war er von seinem Vater, weil er horrende Spielschulden gemacht und seine Familie beinahe ruiniert hatte, aus dem Haus gejagt worden. Im Ausland hatte er einen weiteren Skandal verursacht, weil er mit der Gattin seines Gastgebers durchgebrannt war. In den folgenden fünf Jahren war er immer wieder in schockierende Vorkommnisse verwickelt gewesen. Der Duke of Fleet galt als exzellente Partie, der durch die Liebe einer anständigen Frau auf den rechten Weg zurückgeführt werden konnte, doch auf den Earl of Tallant traf das nicht zu. Mütter pflegten ihre heiratsfähigen Töchter mit einem leisen Entsetzensschrei aus seinem Weg zu scheuchen, statt sie ihm vor die Nase zu schubsen.
Amy bemerkte, dass er sie erneut von Kopf bis Fuß musterte, mit einem so dreisten Blick, dass sie Herzklopfen bekam. Sie war überhaupt nicht daran gewöhnt, auf diese unverschämte Weise begutachtet zu werden. Normalerweise sahen Männer nur attraktive Frauen so an. Unbehaglich zupfte sie an ihrem Kleid, damit ihre Fußgelenke bedeckt waren. Es war ein bisschen zu kurz, da sie es schon seit vier Jahren besaß und noch ein Stück gewachsen war. Ein Lächeln erschien um die Mundwinkel des Earl, als er ihre Verlegenheit bemerkte.
Ungeduldig schüttelte Richard den Würfelbecher. “Sie sagen an, Mylord. Wer geht mit?”
“Ich bin pleite”, murmelte Lord Humphrey. “Tallant hat mir alles abgenommen.”
“Ich passe”, äußerte Albert Hallam düster. “Ich habe keinen Penny mehr.”
“Entschuldigen Sie mich”, murmelte Amy hastig und lächelte den Duke of Fleet an, der herbeigekommen war und ihr die Tür geöffnet hatte. Ganz bewusst vermied sie es, dem Earl of Tallant noch einen Blick zuzuwerfen, und eilte in das kühle Entree.
Die Mutter stand wie ein Gespenst am Fuß der Treppe. “Oh, Amy, mein Schatz! Du warst so lange fort! Ich habe mich gefragt, was mit dir los ist. Ist alles in Ordnung?”
“Oh ja, Mama”, antwortete Amy fröhlich und verdrängte die Gedanken an Lord Tallant. “Mir ist überhaupt nichts passiert.”
“Mr. Hallam hat dir keinen Heiratsantrag gemacht?”
“Nein, Mama. Er war zu beschäftigt.”
“Wie schade.” Lady Bainbridge seufzte. “Dann
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