Louisiana-Trilogie 1 - Tiefer Süden
großen Sessel neben dem Tisch nieder, auf dem eine Vase mit frischen Blumen stand. »Nun, was haben Sie eben alles gesagt?«
Esther sank in einen Stuhl. Sie war zwar nicht aufgefordert worden, sich zu setzen, aber sie war zu müde, um noch länger stehen zu können. Ihre Kleider waren feucht von Schweiß und klebten an ihrem Körper, und ihre Zunge war vor Durst geschwollen. Sie erzählte ihre Geschichte. Aber sie sprach übereilt und zusammenhanglos. Die Worte kamen aus ihrem Munde, bevor sie richtig nachgedacht hatte.
Mrs. Sheramy hatte das Kinn in die Hand gestützt und hörte zu. »Ich weiß nicht, ob Sie absichtlich lügen, oder ob Sie es tun, weil Sie nicht ganz bei sich sind«, sagte sie schließlich langsam und von oben herab.
»Keins von beiden ist der Fall«, erwiderte Esther verzweifelt. »Bitte, Madame, hat Ihr Mann Ihnen niemals gesagt, daß seine Mutter später einen Dockarbeiter heiratete?«
Mrs. Sheramy rückte einige der Rosen in der Vase zurecht.
»Mein Mann hat niemals viel von seiner Mutter gewußt«, erklärte sie nach einiger Zeit. »Es ging ein ungewisses Gerücht, daß sie sich mit einem Dockarbeiter eingelassen hätte. Aber ich kann doch nicht wissen, ob Ihr Mann ihr Sohn ist. Und selbst wenn er es wäre, weiß ich nicht, was Sie von mir wollen.«
»Ich bitte Sie um Ihre Hilfe«, sagte Esther schwach.
»Aber gute Frau, wie kann ich Ihnen helfen?« Mrs. Sheramy lächelte freundlich. »Sie tun mir ja sehr leid, aber Sie haben doch eben selbst erzählt, daß Ihr Mann einen anderen erstochen hat und vom Gericht zum Tode verurteilt wurde. Daran kann ich doch nichts ändern. Es ist natürlich sehr traurig, daß Sie und Ihre Kinder unversorgt zurückbleiben – hier, nehmen Sie das.« Sie zog eine Schublade des Tisches auf und nahm eine Geldbörse heraus. »Das hilft Ihnen wenigstens so lange, bis Sie Arbeit gefunden haben.«
Esther stand langsam auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Sie sind die gemeinste Frau, die ich jemals gesehen habe.«
Mrs. Sheramy trat zu ihr und steckte ihr den Geldbeutel in die Hand. »Es ist besser, Sie gehen jetzt wieder«, sagte sie beschwichtigend.
»Nein, ich gehe nicht!« Esther warf die Börse auf den Boden. »Ich will kein Geld von Ihnen. Mein Mann kann den Lebensunterhalt für mich und meine Kinder verdienen, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Sie müssen zur Stadt fahren und den Richtern erklären, daß er meinen Vater nur deshalb erstochen hat, weil er betrunken war und mein Kind mit Füßen trat.«
Mrs. Sheramy seufzte. »Aber warum haben Sie ihnen denn das nicht selbst erzählt, wenn es sich so verhält, Mrs. Upjohn?«
»Ich habe es versucht, aber ich konnte mich ihnen nicht verständlich machen. Sie sprachen alle durcheinander und mindestens die Hälfte ausländisches Zeug! Aber wenn Sie kommen, werden Sie sie anhören, was Sie ihnen sagen!«
»Aber ich habe die Tat doch gar nicht gesehen! Ich kann nicht als Zeugin auftreten«, erwiderte Mrs. Sheramy geduldig, als ob sie einem kleinen Kind etwas begreiflich machen wollte. Sie hob die Börse vom Boden auf. »Nehmen Sie das, Mrs. Upjohn, und gehen Sie jetzt! Daß Sie hier laut schreien, hilft Ihnen auch nicht.«
»Ich gehe nicht fort. Ich bleibe hier und sage es Mr. Sheramy selbst. Ich rühre mich nicht von der Stelle.«
»Das werden Sie doch tun«, entgegnete Mrs. Sheramy.
Trotz ihrer großen Erschöpfung wunderte sich Esther, daß eine Frau so freundlich sprechen konnte, obwohl sie vor Wut kochte, wie man sehen konnte.
»Es tut mir leid«, fuhr Mrs. Sheramy gelassen fort, »aber wenn Sie fortfahren, hier so laut zu schreien und eine Szene zu machen, muß ich die Diener rufen und Sie fortbringen lassen. Also, wollen Sie nun ruhig gehen – oder soll ich klingeln?«
Sie legte die Hand an den Zug. Esther fühlte, daß sie mit ihren eigenen Händen unsichere Bewegungen machte. Das schöne, aber so herzlose Gesicht dieser Frau schien plötzlich zu verschwinden, dann wieder beängstigend nahe zu sein. Esther fühlte eine sonderbare Leichtigkeit im Kopf und wußte, daß sie fiel, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf einem weichen, sauberen Bett mit einer blauen Steppdecke. Am Fußende stand Mr. Roger Sheramy, und seine Frau saß auf einem Stuhl in der Nähe. Mr. Sheramy sah Gideon ein wenig ähnlich. Er hatte dieselbe sonderbare Sattelnase und die gleichen schweren, buschigen Augenbrauen, die über der Stirnwurzel beinahe
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