Louisiana-Trilogie 2 - Die noble Straße
daß Gilday häufig Bücher las; er sang jetzt die Zeilen:
»Und so hat er Miß Flora betört und gewonnen
mit Seide und Reifrock und Cul de Paris!«
Corrie May unterbrach ihn: »Seit wann bist du eigentlich unter die Dichter gegangen, Samuel, oder gibst du mir jetzt endlich die sechzig Dollar?«
»Was bin ich doch für ein Esel!« verkündete Gilday seinen Kumpanen. »Jedesmal, wenn ich Corrie May zu Gesicht bekomme, trägt sie ein neues Kleid. Und jetzt soll ich ihr Geld geben, weil sie nichts mehr anzuziehen hat. Herr, erbarme dich meiner armen Seele!«
»Hör endlich auf!« sagte Corrie May. »Es ist schon vier Uhr vorbei, und ich habe noch vielerlei zu besorgen.«
Gilday zog nachsichtig ein Schubfach seines Schreibtisches auf. Es war voller Geld, das aus dem Einzug der Grundsteuern stammte. Gilday verstand es ausgezeichnet, die Steuerlisten abzuändern; er setzte die Größen der steuerpflichtigen Ländereien in den Registern geringer an, als sie sich tatsächlich bemaßen, veranlagte aber die Steuern für den wahren Umfang der Grundstücke; die so erzielten Überschüsse steckte er in die eigene Tasche. Er griff ein paar Scheine aus dem großen Kasten heraus und sagte: »Laß sehen, was wir hier haben –! Hundertzehn Dollar. Reicht das?«
»Das reicht!« sagte Corrie May und lächelte. Er lächelte zurück und gab ihr das Geld. Als Corrie May die Noten in ihr Portemonnaie stopfte, hörte sie die Tür gehen und dann leise das Rascheln von Unterröcken. Sie blickte auf: es war Ann Sheramy-Larne, die soeben den Raum betreten hatte.
Für den Bruchteil einer Minute blieb Ann bei der Tür stehen, als fiele es ihr schwer, sich dem Schreibtisch zu nähern. In dieser kurzen Ewigkeit wurde Corrie May der Besucherin so völlig inne, wie sie nie zuvor einen anderen Menschen deutlich erfaßt hatte. Fast fünf Jahre lang war Corrie May der jungen Mrs. Larne nicht begegnet; nun wurde sie als erstes von dem Gedanken überfallen, wie es möglich war, daß sich irgendwer so seltsam und ungeheuerlich verwandelt hatte.
Anns Antlitz war dünn und hart geworden; es sah aus, als wäre es in Stein gemeißelt. Ihre ganze Figur schien in sonderbarer Steifheit befangen, die Corrie May an Holzschnitzereien in einem alten Kirchenstuhl erinnerte. Sie trug ein Kleid aus einfachstem grauem Popeline, besetzt mit schmalen weißen Bändchen am Halse und an den Handgelenken; der Rock zeigte sich ziemlich eng geschnitten, als hätte der ärmliche Stoff nicht mehr zu den üppigen Puffen gereicht, die die Mode vorschrieb. In ihren grau behandschuhten Händen hielt sie ein Geldtäschchen. Als Ann sich endlich dem Schreibtisch näherte, erkannte Corrie May, daß Ann zu bescheidenem Knoten nur ihr eigenes Haar geschürzt hatte – entweder ein sicheres Zeichen der Armut oder ein solches völliger Verachtung der Mode; und Corrie May glaubte Ann gut genug zu kennen, daß das letztere nicht in Frage kam.
Ann trat vor Gildays Schreibtisch, wurde aber kaum des Mannes inne, der dahinter saß; offenbar sah sie in ihm keinen Menschen, sondern nur ein Symbol. Mit einer völlig ausdruckslosen Stimme erklärte sie:
»Ich bin gekommen, um die letzte Rate der diesjährigen Grundsteuer auf die Plantage Ardeith zu bezahlen.«
»Nicht möglich!« sagte Gilday; er hatte schwerlich zugehört. Er lehnte sich vorwärts, entließ Corrie May aus seinem Arm und stützte seine Ellbogen auf den Tisch. Ein langsames Lächeln glomm in seinen Zügen auf, jenes merkwürdige freudlose Lächeln, in dem sich nur seine Lippen ein wenig streckten. Zwischen den Zähnen hervor sagte er: »Da trifft man also mit einem Male lauter alte Bekannte! Miß Sheramy, wenn ich mich nicht sehr täusche – oder etwa nicht?«
Jetzt erkannte auch Ann ihn wieder; ihre Augen glitten flackernd über sein Gesicht. Sie erwiderte kalt:
»Mein Name ist Larne.«
»Natürlich, natürlich, ich habe mich geirrt!« Aus Gildays Stimme klang ein schneidender Hohn. »Es sieht mir ähnlich zu vergessen, daß eine Dame ihren Namen ändert, wenn sie heiratet. Nun behaupten Sie nur nicht noch, Sie hätten mich vergessen.«
»Ich glaube, Sie heißen Gilday«, entgegnete Ann; kaum, daß sie die Lippen dabei bewegte; unverkennbarer noch als zuvor schien ihr Gesicht jetzt aus Stein geschnitten. Corrie May nahm wahr, wie Anns Hände sich unter den zwirnenen Handschuhen um das Geldtäschchen krampften; die Knöchel traten einzeln hervor.
»Richtig, richtig!« rief Gilday spöttisch gefühlvoll. »Wie ich
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