Louisiana-Trilogie 2 - Die noble Straße
vom Bett nehmen!«
Corrie May horchte auf; die Näharbeit glitt ihr von den Knien und raschelte zu Boden. Ann im Nebenzimmer erhob Widerspruch:
»Das Hemdchen? Was willst du damit? Es ist so hübsch!«
»Jaja, aber gib es nur her. Der Kleine hat genug Hemden, die hier im Hause gemacht sind.«
»Er kann dies doch auch tragen«, rief Ann. »Sieh nur, wie süß diese Zäckchen gestickt sind.«
Corrie May hörte Mammy tief aufseufzen: »Ach, mein Herzblatt, du hast so viel Verstand, als wenn du eben erst geboren wärst wie der kleine Herr. Dies Hemd hat Corrie May bei sich zu Haus genäht, und die Wohnungen, worinnen diese Art von Leuten hausen, kannst du dir nicht vorstellen. Es sind bloß Buden und Löcher! Es wimmelt da von Wanzen. Das geb' ich nicht zu. Das Kind darf nichts anziehen, was vom Rattletrap Square stammt – unser kleines Lämmchen!«
Corrie May erhob sich. Sie vernahm Anns Stimme; sie klang plötzlich schrill und aufgeregt:
»Nimm es fort, Mammy, schnell, nimm es fort, bitte! Daran habe ich nicht gedacht. Wirf es fort. Ich will es nicht mehr anfassen!«
»Jaja, Herzblatt! Ich werf's gleich ins Feuer!«
»Nein, das nicht! Der Stoff riecht abscheulich, wenn man ihn ins Feuer steckt. Wirf's auf den Kehricht, daß es mit vergraben wird!«
An der Tür, die in die Halle führte, klopfte es. »Ist das Napoleon?« fragte Ann. »Wenn sie mir wieder Hühnerbrühe schicken, werde ich wild.«
Corrie May hörte das Klappern von Geschirr. Sie flog am ganzen Leib vor Zorn. Gleich würde sie hineingehen, um den beiden zu sagen, was sie von ihnen hielt; sie mußte nur erst aufhören zu zittern. Sie hörte, wie Ann sagte:
»Ich verstehe nicht, warum nicht alle Leute ein ordentliches Leben führen. Schließlich können sich auch die Armen sauberhalten!«
Die armen Leute – und sauber; Ann sollte es einmal versuchen, fuhr es Corrie May durch den Kopf. Mammy fiel ein:
»Natürlich können sie; aber sie tun es bloß selten. Ich möchte wirklich, daß du das Mädchen endlich wegschickst, Miß Ann. Sie hat hier nichts zu suchen. Die Kleider kann auch jemand anders nähen!«
»Ach, schweig still! Fängst du schon wieder davon an. Sie sieht immer sauber aus, wenn sie hierherkommt, und sie braucht die Arbeit dringend und die Pfennige an Lohn, die sie dafür bekommt.«
Corrie May setzte sich langsam wieder hin; sie fühlte sich plötzlich sehr erschöpft wie nach schwerer, übermäßiger Anstrengung. Natürlich: sie konnte die Arbeit nicht entbehren; konnte sie so wenig entbehren, daß sie auch jetzt würde lächeln und knicksen und danken müssen. Erkühnte sie sich zu einem einzigen respektlosen Wort, so würde die junge Herrin von Ardeith überrascht und gekränkt zu antworten wissen; in wohlgesetzten Worten und in vornehmstem Tonfall würde Ann ihr kündigen und sie nach Hause schicken, zum Rattletrap Square – da konnte sie dann verhungern.
Corrie May zerbiß sich in hilfloser Wut die Lippen. Tränen standen ihr in den Augen. Sie mochte es sich nicht eingestehen, aber sie wußte, daß sie zum letztenmal in ihrem Leben dankbar gewesen war. Sie haßte sie allesamt mit ihrer gelegentlichen zufälligen Freundlichkeit und ihrem niedlichen wohlerzogenen Mitleid.
Corrie May beugte sich nieder und nahm das Frisierjäckchen wieder vom Boden auf. Tonlos formte ihr Mund die Worte: »Ich will für euch arbeiten. Aber bevor ich sterbe, will ich zu etwas kommen. Ich will etwas werden. Und eines Tages werde ich so weit sein, daß ich euch sagen kann, was ich von euch halte.«
Ihre Hände bebten heftig; mehrere Minuten vergingen, ehe sie von neuem die Nadel festhalten konnte.
Fünftes Kapitel
I
A ls das Kind eine Woche alt war, schenkte Denis seiner Ann ein Medaillon, das mit Diamanten besetzt war; es sollte ein Bildchen des Kindes in seiner vorderen Schale und eine seiner Locken in der anderen aufnehmen, die auf die Haut zu liegen kam. Er saß auf dem Bettrand, während Ann das Medaillon in ihren Fingern hielt, es hin und her wandte und sich an den kleinen Behältern erfreute, die jene Zeichen ihres Erstgeborenen aufnehmen sollten.
»Wunderhübsch!« sagte sie. »Sobald sein Haar lang genug dazu ist, will ich ihm eine Locke abschneiden. Ich kann es, glaube ich, als Busennadel tragen.«
Denis beugte sich über sie und küßte sie. »Wie fühlst du dich?«
»Gut! Dr. Purcell sagt, ich könnte in wenigen Tagen aufstehen.«
»Überstürze es nicht, Liebling!« drängte er. »Du hast ja so viel Zeit, wie du
Weitere Kostenlose Bücher