Lourdes
allgemeiner Mittagstisch, und trotzdem es bereits zwei Uhr war, frühstückten noch über zwanzig Personen. Der Nachmittag schritt vor, und trotzdem wurde immer noch gegessen, von einem Ende der Stadt Lourdes bis zum andern. Auch Cazaban vermietete wie die anderen Hauseigentümer in der Stadt, ohne Rücksicht auf ihre religiösen Ansichten, während der Pilgerzeit das eigene Zimmer und verließ seinen Speisesaal, um sich in den Keller zu flüchten. Dort aß, schlief und wohnte er mit seiner Familie in einem Loch ohne Luft von drei Quadratmeter Fläche. Das kam von der Erwerbssucht: die Bevölkerung verschwand wie die einer eroberten Stadt, indem sie den Pilgern alles, sogar Betten der Frauen und Kinder preisgab, sie an ihre Tische setzte und sie aus ihren Tellern essen ließ.
»Ist niemand da?« rief Herr von Guersaint.
Endlich erschien ein kleiner Mann, das Urbild eines lebhaften und knorrigen Pyrenäenbewohners, mit langem Gesicht und hervorspringenden Backenknochen. Die Gesichtsfarbe war sonnenverbrannt und zeigte rote Flecke. Seine großen Augen standen nie still, und über seine ganze magere Gestalt lief ein Zittern, eine ununterbrochene Fülle von Gebärden und Worten.
»Ich werde den Herrn bedienen – rasieren, nicht wahr? Ich bitte um Verzeihung, aber mein Gehilfe ist ausgegangen, und ich befand mich bei meinen Gästen. Wenn der Herr sich niedersetzen will, werde ich ihn so schnell wie möglich bedienen.«
Und Cazaban geruhte, persönlich Hand anzulegen. Er schlug die Seife zu Schaum und zog das Rasiermesser ab. Er warf einen unruhigen Blick auf die Soutane Pierres, der, ohne ein Wort zu sagen, sich gesetzt und eine Zeitung geöffnet hatte.
Es traf ein kurzes Schweigen ein. Aber Cazaban litt darunter, und deshalb begann er, als er das Kinn seines Kunden einseifte, sofort wieder:
»Stellen Sie sich vor, mein Herr! Meine Gäste haben sich so lange in der Grotte verspätet, daß sie jetzt erst frühstücken. Hören Sie sie? Ich blieb aus Höflichkeit bei ihnen. Aber, nicht wahr? Ich muß auch meine Kunden besorgen. Man muß alle Welt zufriedenstellen.«
Herr von Guersaint, der ebenso gern plauderte, forschte ihn aus.
»Sie nehmen Pilger in Pension?«
»Oh, wir alle beherbergen welche«, antwortete der Barbier offenherzig. »Es ist so der Landesbrauch.«
»Und Sie begleiten sie in die Grotte?«
Sofort empörte sich Cazaban gegen diese Zumutung, und indem er das Rasiermesser in die Höhe hielt, sagte er sehr würdig:
»Nie, mein Herr, nie! Fünf Jahre sind es jetzt, daß ich nicht mehr in die neue Stadt, die sie bauen, hinuntergegangen bin.«
Er hielt sich noch zurück und betrachtete aufs neue die Soutane Pierres, der hinter der Zeitung verschwunden war. Auch der Anblick des auf Herrn von Guersaints Kleid befestigten roten Kreuzes machte ihn vorsichtig. Aber seine Zunge ging mit ihm durch.
»Hören Sie, mein Herr! Alle Meinungen sind frei. Ich achte die Ihrigen, aber ich, ich gebe nichts auf diese Gaukelspiele. Und ich habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Unter dem Kaiserreich, mein Herr, war ich schon republikanisch gesinnt und ein Freidenker. Wir waren zu jener Zeit nur vier in der Stadt. Ja! Ich mache mir eine Ehre daraus.«
Er hatte die linke Wange in Angriff genommen, er triumphierte. Von diesem Augenblick an floß ein unerschöpflicher Wortschwall über seine Lippen. Zuerst wiederholte er alle Beschuldigungen, die Majesté gegen die Väter der Grotte vorgebracht hatte: den Schacher mit religiösen Gegenständen, die unredliche Konkurrenz, die den Verkäufern von geweihten Artikeln, den Gasthofbesitzern und Zimmervermietern gemacht wurde. Ach, auch er hatte einen großen Haß auf die blauen Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis! Denn sie hatten ihm zwei Mieterinnen weggenommen, zwei alte Damen, die jedes Jahr drei Wochen in Lourdes zubrachten. Und man fühlte aus seinen Reden heraus, wie sich langsam ein Groll in ihm angesammelt hatte, der heute zum Überfließen kam, der Groll der alten Stadt gegen die neue, gegen die auf der andern Seite des Schlosses schnell aufgeschossene reiche Stadt mit ihren Häusern, in denen alles Leben, alle Pracht und alles Geld zusammenströmte, so daß sie sich unaufhörlich vergrößerte und bereicherte, während die ältere, altväterische und arme Bergstadt mit den kleinen verlassenen Straßen, in denen Gras wuchs, ihren Todeskampf kämpfte. Trotzdem wurde der Wettstreit noch fortgesetzt. Die alte Stadt wollte nicht sterben, sie mühte sich ab,
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