Lourdes
Wänden, hatte er keine anderen Möbel als Bänke, die kreuz und quer herumstanden, so daß die obdachlosen Pilger, die sich hierher geflüchtet hatten, ihre Körbe, Pakete und Reisesäcke in den Fensteröffnungen aufgestapelt hatten. Übrigens war der Saal leer. Alle armen Leute, die er vor Wind und Wetter schützte, mußten mit der Prozession gegangen sein. Aber obgleich die Tür weit offenstand, herrschte darin ein unerträglicher Geruch. Die Mauern waren durchdrungen vom Elend, die Steinfliesen schmutzig und feucht trotz des schönen, sonnigen Tages und ganz naß von Speichel, Fett und verschüttetem Wein. Der Saal wurde zu allem benützt: man aß darin und schlief darin auf den Bänken in einem Haufen von unsauberen Leibern und von Lumpen.
Pierre sagte sich, der liebliche Rosengeruch ströme jedenfalls nicht von da aus. Trotzdem beendigte er seinen Gang durch den Saal, den vier rauchige Laternen erhellten und den er ganz leer glaubte, als er zu seiner Überraschung an der linken Mauer eine unbestimmte Gestalt wahrnahm. Es war eine schwarz gekleidete Frau, die ein weißes Bündel auf ihren Knien hielt. Sie befand sich ganz allein in der Einsamkeit, bewegte sich nicht von der Stelle und hatte die Augen weit offen.
Der Priester näherte sich und erkannte Frau Vincent. Mit leiser, gebrochener Stimme sagte sie zu ihm:
»Ja, Rose hat heute so viel gelitten! Seit dem Morgengrauen hat sie nur Klagerufe ausgestoßen. Dann ist sie eingeschlafen, jetzt sind's bald zwei Stunden, und ich wage nicht, mich zu rühren, aus Furcht, daß sie erwacht und dann von neuem zu leiden hat.«
Sie hielt sich unbeweglich, eine Märtyrerin, die ihre Tochter schon seit Monaten so hielt in der starrsinnigen Hoffnung, sie zu heilen. Sie hatte sie auf ihren Armen nach Lourdes gebracht, trug sie dort mit sich herum und schläferte sie auf ihren Armen ein, da sie weder eine Kammer noch selbst ein Spitalbett hatte.
»Geht es denn der armen Kleinen nicht besser?« fragte Pierre, dessen Herz blutete.
»Nein, Herr Abbé, nein! Ich glaube nicht.«
»Aber«, fuhr er fort, »auf dieser Bank sind Sie sehr schlecht untergebracht. Man hätte etwas unternehmen sollen, daß Sie nicht so auf der Straße bleiben. Ihr Töchterchen wäre irgendwo aufgenommen worden, ganz bestimmt.«
»Herr Abbé, wozu? Sie ist auf meinen Knien gut aufgehoben. Und hätte man mir erlaubt, stets bei ihr zu sein? Nein, nein! Ich trage sie lieber mit mir herum, mir ist, als ob ihr das schließlich das Leben retten wird.«
Zwei große Tränen rannen über ihr unbewegliches Gesicht. Dann fuhr sie mit erstickter Stimme fort:
»Ich bin nicht ohne Geld. Ich hatte dreißig Sous bei der Abreise von Paris, und ich habe noch zehn davon übrig. Mir genügt Brot, und sie kann nicht einmal mehr Milch trinken. Es reicht schon noch bis zur Heimfahrt, und wenn sie gesund wird, dann sind wir ja reich, reich!«
Sie hatte sich geneigt und betrachtete im flackernden Licht der nächsten Laterne das weiße Gesicht Roses, deren Lippen ein schwacher Atem halb öffnete.
»Sehen Sie doch, wie sie schläft! Nicht wahr, Herr Abbé, die Heilige Jungfrau wird Erbarmen haben und sie heilen. Wir haben nur noch einen Tag, aber ich verzweifle nicht. Und ich werde abermals die ganze Nacht beten, ohne von diesem Platz zu weichen. Morgen wird's geschehen. Wenn wir nur bis morgen am Leben bleiben.«
Pierre überfiel ein unendliches Mitleid. Er ging hinweg, da er fürchtete, daß auch er weinen müßte.
»Ja, ja, arme Frau! Nur die Hoffnung nicht aufgeben!«
Dann ließ er sie allein im Hintergrund des weiten, öden und ekelhaften Saales unter den unordentlich herumstehenden Bänken. Sie blieb unbeweglich in ihrem leidenschaftlichen Mutterschmerz sitzen und hielt sogar ihren Atem zurück aus Furcht, der Aufruhr in ihrer Brust könnte die kleine Kranke aufwecken. In ihren Qualen betete sie inbrünstig mit geschlossenem Mund.
Als Pierre zu Marie zurück kam, fragte sie ihn lebhaft:
»Nun? Und die Rosen? Nicht wahr, es gibt hier Rosen?«
Er wollte sie mit der Erzählung dessen, was er soeben gesehen hatte, nicht betrüben. Deshalb antwortete er nur: »Nein, ich habe gesucht, aber es sind keine Rosen da.«
»Das ist eigentümlich«, fuhr sie nachdenklich fort. »Dieser Duft ist so süß und dabei so durchdringend. Sie riechen ihn, nicht wahr? Und da! In diesem Augenblick ist er von außerordentlicher Stärke, als ob um uns herum alle Rosen des Paradieses in der Nacht blühten.«
Ein leichter Ausruf ihres
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