Lourdes
Vaters unterbrach sie. Herr von Guersaint hatte sich wieder aufgerichtet, als er auf der Höhe der Rampen links von der Basilika leuchtende Punkte erscheinen sah.
»Da sind sie endlich!«
In der Tat zeigte sich die Spitze der Prozession und sofort vermehrten sich die leuchtenden Punkte und verlängerten sich zu einer doppelten, schwankenden Linie. Die Finsternis überschwemmte alles. Es schien, als zeigten sich die Lichter hoch oben, als träten sie aus den schwarzen Tiefen des Unbekannten hervor. Und zur selben Zeit begann wieder der Gesang, der nicht enden wollende Klagegesang der Bernadette, aber er war noch so entfernt, so leise, daß er nur dem leichten Rauschen eines Windstoßes in den nahen Bäumen glich.
»Ich hatte es ja gesagt«, murmelte Herr von Guersaint, »man müßte auf dem Kalvarienberg stehen, um alles zu sehen.«
Mit kindischem Eigensinn kam er auf seine erste Idee zurück und beklagte sich darüber, daß man den schlechtesten Platz gewählt hätte.
»Aber, Papa!« sagte endlich Marie, »warum gehst du nicht auf den Kalvarienberg? Es ist noch Zeit. Pierre wird bei mir bleiben.«
Und mit einem traurigen Lächeln setzte sie hinzu:
»Geh nur! Mich wird niemand entführen.«
Er weigerte sich, dann aber gab er, unfähig, seinem Wunsche zu widerstehen, auf einmal nach. Er mußte sich beeilen und die Rasenplätze schnell überschreiten.
»Geht nicht von hier fort, sondern erwartet mich unter diesen Bäumen. Ich werde euch erzählen, was ich von dort oben gesehen habe.«
Pierre und Marie blieben allein zurück in diesem dunklen, einsamen Winkel, in dem der Wohlgeruch von Rosen herrschte, ohne daß es in der Umgebung eine einzige Rose gab. Sie sprachen nicht, sie betrachteten die Prozession, die in ununterbrochener Bewegung ins Tal glitt.
Sie glich einer zweifachen Reihe zitternder Sterne, die an der linken Ecke der Basilika auftauchte und jetzt der monumental gebauten Rampe folgte, deren Rundung sie nach und nach abzeichnete. In dieser Entfernung sah man noch immer die Pilger nicht, die die Kerzen trugen. Man erblickte nur wandelnde, in Reih und Glied sich einordnende Feuer, die im Schatten gerade Linien zogen. Selbst die Bauwerke waren unter dem blauen Nachthimmel nur ganz unbestimmt wahrnehmbar und wurden kaum durch eine Verdichtung der Finsternis angedeutet. Aber allmählich und in dem Maße, in dem die Zahl der Kerzen zunahm, erhellten sich auch die architektonischen Umrisse, die hoch emporstrebenden Gewölbe der Basilika, die riesenhaften Brückenbogen der Rampen und die schwerfällige, gedrückte Fassade der Rosenkranzkirche. Mit dem ununterbrochenen Strom lebhafter Lichtfunken, der fort und fort ohne Hast dahinfloß, in der starrsinnigen Weise einer über ihre Ufer getretenen Flut, der nichts den Weg versperrt, brach es wie eine Morgenröte an: es entstand eine leuchtende Wolke, die sich über den Horizont verbreitete und ihn endlich ganz mit ihrem Glanze überzog.
»Sehen Sie doch nur, Pierre!« rief Marie, die von einer kindlichen Freude ergriffen war. »Es hört gar nicht auf, es kommen immer mehr.«
In der Tat dauerte in der Höhe das plötzliche Erscheinen der kleinen Lichter mit mechanischer Regelmäßigkeit fort, als ob diese Sonnenfäden aus irgendeiner unerschöpflichen Himmelsquelle hervorgesprudelt wären. Die Spitze der Prozession hatte soeben die Gärten erreicht und befand sich auf der Höhe der gekrönten Jungfrau, so daß die doppelte Flammenlinie erst die Kurve des Dachwerks der Rosenkranzkirche und die der großen Zufahrtsrampe abzeichnete. Aber die Annäherung der Menge machte sich durch eine Unruhe der Luft fühlbar, durch einen lebhaften, von fern hergekommenen Hauch. Die Stimmen schwollen an, der Klagegesang der Bernadette steigerte sich zum Getöse einer Meeresflut, die den Kehrreim »Ave, ave, ave Maria!« in rhythmischem, immer lauter werdendem Schaukeln mit sich wälzte.
»O diese Worte!« murmelte Pierre; »sie dringen in die Haut ein. Ich glaube, mein ganzer Körper wird sie schließlich noch mitsingen.«
Marie ließ wieder ihr leises Kinderlachen hören.
»Es ist wahr«, sagte sie; »sie verfolgen mich auch überallhin, und ich horte sie neulich nachts im Schlafe. Jetzt ergreifen sie mich wiederum und wiegen mich hinüber in die Gefilde über der Erde.«
Sie unterbrach sich, um zu bemerken: »Jetzt sind sie vor uns auf der andern Seite des Rasens.«
Die Prozession verfolgte nun die lange gerade Allee und kam, nachdem sie am Kreuz der Bretonen umgekehrt
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