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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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unaufhörlich und schaukelnd das »Ave, ave, ave Maria!« Es betäubte den Geist, zerschlug die Glieder und entrückte alle Wesen nach und nach in eine Art wachen Schlafes, zu einer völligen Vision des Paradieses. Wenn sie nachts schliefen, war es, als ob das Bett die schaukelnde Bewegung angenommen hätte, und noch im Schlafe sangen sie.
    »Bleiben wir hier?« fragte Herr von Guersaint, der rasch müde wurde. »Jetzt ist es immer dasselbe.«
    Marie, der die in der Menge gesprochenen Worte Auskunft gaben, sagte:
    »Sie hatten recht, Pierre! Es wäre besser, wenn wir da hinab unter die Bäume zurückkehrten. Ich möchte so gerne alles sehen!«
    »Gewiß!« antwortete der Priester; »wir wollen uns einen Platz suchen, von dem aus Sie alles sehen können. Es ist nur schwierig, uns jetzt hier aus dem Gedränge zu winden.«
    In der Tat hatte die Masse der Neugierigen eine Mauer um sie gezogen. Pierre mußte sich langsam und mit Beharrlichkeit einen Weg bahnen, indem er um ein wenig Platz für die Kranke bat. Marie wandte sich zurück und versuchte, noch einmal den flammenden Wasserspiegel vor der Grotte zu sehen, den aus kleinen glitzernden Wellen gebildeten See, von dem die unendliche Prozession ausging, ohne daß er sich zu verringern schien. Herr von Guersaint beschloß den Zug und schützte drei Wagen vor Stößen.
    Endlich befanden sich alle drei außerhalb der Menge. Nahe bei einer Bogenwölbung, an einer ganz menschenleeren Stelle, konnten sie einen Augenblick aufatmen. Dort hörte man nur noch den fernen Klagegesang mit seinem hartnäckigen Kehrreim, und man sah nur den Widerschein der Kerzen in Form einer leuchtenden Wolke, die auf der Seite schwebte, auf der sich die Basilika befand.
    »Man würde den besten Platz haben, wenn man auf den Kalvarienberg stiege«, erklärte Herr von Guersaint. »Das Dienstmädchen im Hotel hat mir das noch heute morgen gesagt. Von da oben muß, der Anblick feenhaft schön sein.«
    Aber man durfte nicht daran denken. Pierre betonte nachdrücklich die Schwierigkeiten.
    »Wie wollen Sie uns mit dem Wagen auf diese Höhe hinaufbringen? Dann muß man auch an den Abstieg denken, der in dunkler Nacht und mitten im Gedränge sehr gefährlich wäre.«
    Marie selbst zog vor, in den Gärten und unter den Bäumen zu bleiben, wo es so angenehm war. Deshalb kehrten sie zurück und traten der großen gekrönten Jungfrau gegenüber auf die Esplanade hinaus. Die Bildsäule war durch farbige Gläser beleuchtet, die sie im Heiligenschein blauer und gelber Lämpchen in eine Jahrmarktsglorie versetzten. Trotz seiner Frömmigkeit fand dies Herr von Guersaint von abscheulichem Geschmack.
    »Da«, sagte Marie, »bei diesem dichten Gehölz werden wir gut aufgehoben sein.«
    Sie deutete auf eine an der Seite der »Zuflucht der Pilger« stehende Baumgruppe. Der Platz war in der Tat vortrefflich, denn er gestattete, die Prozession über die Rampe linker Hand herabsteigen zu sehen und ihr mit den Blicken bis zur neuen Brücke zu folgen, und zwar in ihrer doppelten parallelen Bewegung des Hin- und Zurückgehens. Außerdem verlieh die Nähe des Gave dem Laubwerk eine köstliche Frische. Niemand war da, und im dichten Schatten der hohen, die Allee einsäumenden Platanen genoß man einen unendlichen Frieden.
    Herr von Guersaint stellte sich auf die Fußspitzen, er war ungeduldig, die ersten Kerzen bei ihrem Rundgang um die Basilika wieder erscheinen zu sehen.
    »Es zeigt sich noch nichts«, murmelte er. »Ich setze mich einen Augenblick ins Gras nieder. Meine Beine sind mir wie abgeschlagen.«
    Dann sorgte er sich um seine Tochter.
    »Soll ich dich zudecken? Es ist sehr frisch hier.«
    »O nein, Vater! Mich friert nicht, ich bin so glücklich! Es ist recht lange her, daß ich keine so gute Luft mehr geatmet habe. Es müssen hier irgendwo Rosen sein. Riechst du diesen köstlichen Duft nicht?«
    Dann wandte sie sich an Pierre und sagte:
    »Lieber Freund, wo stehen denn die Rosen? Sehen Sie sie?«
    Als Herr von Guersaint sich neben dem Wagen niedergesetzt hatte, kam Pierre der Gedanke, zu suchen, ob sich nicht ein Rosenbeet in der Nähe befände. Aber vergeblich stöberte er auf den dunklen Rasenplätzen herum, er unterschied nur dichten grünen Pflanzenwuchs. Und als er auf dem Rückweg vor der »Zuflucht der Pilger« vorbeikam, da trieb ihn die Neugierde, dort einzutreten.
    Es war ein großer Saal mit sehr hoher Decke, den breite Fenster von zwei Seiten beleuchteten. Mit Steinplatten belegt und mit nackten

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