Lourdes
es an anderen Punkten zu Streifen und Milchstraßen kam, die inmitten der Sternbilder dahinflossen. Das waren die dreißigtausend Kerzen, die sich allmählich aneinander entzündeten, den lebhaften Glanz der Grotte verdunkelten und von einem Ende der Promenade bis zum andern die kleinen gelben Flammen glühender Kohlen wälzten.
Marie flüsterte:
»Pierre, wie ist das schön! Man möchte sagen, es sei die Auferstehung der Demütigen, der kleinen, armen Seelen, die wieder erwachen und leuchten!«
»Herrlich, herrlich!« rief Herr von Guersaint begeistert. »Seht dort drüben die zwei Streifen, die sich schneiden und ein Kreuz bilden!«
Pierre war gerührt von dem, was Marie soeben gesagt hatte. Ja, so war es: diese schwachen Flammen und mattleuchtenden Punkte stellten die Bescheidenheit eines demütigen Volkes dar. Ihre große Zahl machte den Glanz aus und bildete einen Widerschein der Sonne. Ununterbrochen kamen neue zum Vorschein, in größerer Entfernung und wie verirrt.
»Ach!« flüsterte er, »das Flämmchen dort, das ganz allein auftauchte, weit weg und so zitternd ... Sehen Sie, Marie, wie es schwimmt und wie es langsam näherkommt, um sich in dem großen Feuersee zu verlieren?«
Man sah jetzt so deutlich wie am hellen Tage. Die von unten her beleuchteten Bäume zeigten ein grünes Laub, ähnlich den gemalten Bäumen auf Kulissen. Über dem beweglichen Glutbecken schwebten unbewegliche Kirchenfahnen, sie waren erkennbar an ihren heiligen Stickereien und seidenen Schnüren. Und der helle Widerschein stieg den Felsen entlang bis zur Basilika empor, deren Turmspitze jetzt am schwarzen Himmel ganz weiß erschien, während auf der andern Seite des Gave sich die Hügel ebenfalls erhellten und inmitten ihres düstern Laubwerks die hellen Fassaden der Klöster zeigten.
Es trat noch ein Augenblick der Unschlüssigkeit ein. In dem flammenden See, in dem jeder brennende Docht eine kleine Welle darstellte, wogte das Sterngefunkel. Es schien beinahe, als wolle er ausbrechen, um sich in einen Strom zu ergießen. Dann flatterten die Fahnen hin und her, und eine Bewegung entstand.
»Da!« rief Herr von Guersaint; »sie kommen also nicht hier vorbei?«
Pierre, der Bescheid wußte, erklärte ihm hierauf, daß die Prozession zuerst den mit großen Kosten über den bewaldeten Hügel hergestellten gewundenen Weg hinansteigen würde. Sie würde sodann hinter der Basilika umkehren, bevor sie über die Rampe zur Rechten herabkäme und durch die Gärten hindurch weiterzöge.
»Sehen Sie! Man sieht bereits die ersten unter dem Laubwerk emporsteigenden Kerzen.«
Es war bezaubernd schön. Kleine, zitternde Lichtchen lösten sich ab vom weiten, feurigen Herd und hoben sich in sanftem Flug langsam in die Höhe, ohne daß man irgend etwas unterscheiden konnte, was sie auf der Erde festhielt. Es bewegte sich in der Finsternis wie Sonnenfäden. Bald gestaltete es sich zu einer schrägen Linie, dann bog sich die Linie plötzlich um einen Winkel, und es entstand eine neue Linie, die sich dann wieder krümmte. Schließlich war der ganze Hügel von einem flammenden Zickzack durchfurcht, ähnlich jenen Blitzen, die man auf Bildern aus einem schwarzen Himmel zucken sieht. Aber die leuchtende Spur verlöschte nicht, die kleinen Lichtchen glitten stets in der nämlichen sanften und mäßigen Bewegung dahin. Nur hin und wieder, wenn die Prozession hinter einer Baumgruppe vorüberziehen mußte, entstand eine plötzliche Verfinsterung der schimmernden Sternchen. Weiter entfernt tauchten dann die brennenden Kerzen wieder auf und erhoben sich zum Himmel auf einem gewundenen, unaufhörlich unterbrochenen und wieder aufgenommenen Weg. Dann kam der Augenblick, da sie nicht weiter aufwärts stiegen: sie waren auf der Höhe des Hügels angekommen und verschwanden bei einer letzten Biegung des Weges.
In der Menge wurden Stimmen laut.
»Jetzt kehren sie hinter der Basilika um!«
»Oh, sie brauchen noch zwanzig Minuten, bis sie auf der andern Seite herunterkommen!«
»Ja! Es sind dreißigtausend, und die letzten werden kaum vor einer Stunde von der Grotte wegziehen!«
Schon als die Prozession sich in Bewegung setzte, hatte sich aus dem dumpfen Gemurmel der Menschenmenge ein Kirchengesang entwickelt, nämlich das Klagelied der Bernadette, aus sechsmal zehn Strophen bestehend, in deren Kehrreim der englische Gruß in qualvollem Rhythmus wiederkehrte. Wenn die sechzig Strophen beendigt waren, wurde wieder von vorne angefangen, und so ertönte
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