Lourdes
noch stummer und von unermeßlicher Leere erschien. Die Stadt war tot, kein einziges Licht schimmerte. Es blieb nur das Rauschen des Gave übrig, das er auch bald nicht mehr vernahm, weil sein Gehör gegen das eintönige Geräusch abgestumpft war. Da flammte auf einmal wie eine Wundererscheinung die Grotte vor ihm auf und entflammte Finsternis zu heller Glut. Ohne Zweifel durch den Gedanken an Marie geleitet, war er hierher zurückgekehrt, ohne sich dessen bewußt zu werden. Es mußte gleich drei Uhr schlagen, die Bänke hatten sich geleert. Es waren nur noch etwa zwanzig Personen da, dunkle, verschwommene Gestalten, unbestimmte Gruppen von Knienden und eingeschlummerte Ekstatische, die in eine göttliche Betäubung gefallen waren. Man hätte sagen können, die vorschreitende Nacht habe die Schatten verdichtet und die Grotte in eine traumhafte Entfernung gerückt. Alles lag düster in der Tiefe einer köstlichen Erschlaffung, und auch die unermeßliche dunkle Landschaft schlummerte, während die unsichtbare Stimme des Flusses den Rhythmus dieses Schlummers selbst zu bilden schien, in dem die Heilige Jungfrau, ganz weiß und vom Heiligenschein der Kerzen umgeben, leise lächelte. Frau Maze lag unter den Frauen noch immer auf den Knien, mit gefalteten Händen und geneigtem Kopf. Sie war so unscheinbar, daß sie in ihrem glühenden Gebet aufgegangen zu sein schien.
Pierre hatte sich sofort Marie genähert. Er zitterte vor Kälte und bildete sich ein, sie müßte bei der Annäherung des Morgens zu Eis erstarrt sein.
»Marie! Decken Sie sich zu! Ich bitte Sie darum«, sagte er. »Wollen Sie denn noch mehr leiden?«
Und er hob die herabgeglittene Decke auf und bemühte sich, sie bis unter das Kinn heraufzuziehen.
»Sie frieren, Marie! Ihre Hände sind erstarrt.«
Sie antwortete nicht. Sie hatte die gleiche Haltung beibehalten wie zwei Stunden vorher, als er von ihr weggegangen war. Die Ellenbogen stützten sich auf die Ränder des Wagens, und ihre Gestalt hob sich halb empor. Ihr verklärtes, von himmlischer Freude strahlendes Gesicht war im Feuer der Begeisterung der Heiligen Jungfrau zugekehrt. Ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut hörbar wurde. Vielleicht setzte sie eine geheimnisvolle Unterhaltung fort, die sie im Lande der Verzückung und während ihres wachen Traumes führte, seitdem sie sich hier befand. Er sprach wiederholt zu ihr, aber sie gab ihm keine Antwort. Dann flüsterte sie von selbst, und ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen:
»Pierre! Wie bin ich glücklich!... Ich habe sie gesehen und für Sie zu ihr gebetet. Sie hat mir zugelächelt und ein kleines Zeichen mit dem Kopf gemacht, um mir zu sagen, daß sie mich hörte und erhörte... Und Pierre! Sie hat nicht gesprochen zu mir, ich habe aber dennoch alles verstanden, was sie mir sagte. Morgen um sechs Uhr abends, wenn das heilige Sakrament vorüberzieht, werde ich geheilt werden!«
Er hörte sie erschüttert an. Hatte sie mit offenen Augen geschlafen? Hatte sie im Traum die marmorne Heilige Jungfrau den Kopf neigen und lächeln sehen? Bei dem Gedanken, daß dies reine Kind für ihn gebetet hatte, wurde er von einem heftigen Schreck ergriffen. Er ging bis zur Grotte, fiel dort auf beide Knie nieder und stammelte: »0 Marie! O Marie!« ohne zu wissen, ob dieser Aufschrei seines Herzens sich an die Jungfrau richtete oder an die angebetete Freundin seiner Kinderjahre. Dann blieb er vernichtet dort und erwartete die Gnade.
Es verflossen Minuten ohne Ende. Eine übermenschliche Kraft schien in ihm erwacht zu sein, er erwartete das Wunder, das er für sich selbst suchte, die plötzliche Offenbarung, den Blitzstrahl, der ihm den aufrichtigen, verjüngten und triumphierenden Glauben wiedergeben sollte. Er gab sich ganz hin, er hätte gewünscht, daß eine höchste Macht sein Wesen einschließen und umgestalten möchte. Aber wie bei seiner Messe hörte er in seinem Innern nur ein unbegrenztes Schweigen und fühlte nur eine unergründliche Leere. Nichts trat ein, sein verzweifeltes Herz schien nicht mehr zu schlagen. Es half ihm auch nichts, daß er sich abmühte, zu beten und seine Gedanken aufs äußerste auf diese mächtige, den armen Menschen so gütige Jungfrau zu richten. Trotz alledem entschlüpften ihm die Gedanken, wurden von der äußeren Welt wieder erobert und beschäftigten sich mit kindischen Einzelheiten. In der Grotte, auf der andern Seite des Gitters, sah er den eingeschlummerten Baron Suire, der seinen glücklichen Schlaf
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