Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
Schauspiel angezogen wurde, das sein Herz zerriß.
    Im Regen, der jetzt wie eine Sintflut dicht und schwer niederfiel, bemerkte er Frau Vincent. Sie bot der Heiligen Jungfrau auf beiden ausgestreckten Armen ihre kleine Rose dar, deren teure, schmerzhafte Bürde sie immerfort trug. Da sie in der »Zuflucht«, in der sich Klagen wegen des unablässigen Ächzens der Kleinen erhoben hatten, nicht hatte bleiben können, hatte sie sie in der Nacht fortgetragen. Über zwei Stunden war sie dann außer sich, wahnwitzig, mit dieser traurigen Bürde, ohne ihr Erleichterung verschaffen zu können, im Finstern hin und her gelaufen. Sie wußte nicht, welchen Weg sie eingeschlagen und unter welchen Bäumen sie sich verirrt hatte. Sie war ganz in Aufruhr gegen das ungerechte Leiden, welches dies arme, kleine, so schwache und fleckenlose Wesen, das noch unfähig war, eine Sünde zu begehen, mit solcher Härte traf. Waren diese Qualen der Krankheit, die ihr Kind seit Wochen unaufhörlich verfolgten, nicht eine Abscheulichkeit – ihr Kind, dessen Schreien sie auf keine Weise zu beschwichtigen wußte? Sie trug es hin und her, sie wiegte es ohne Ruhe auf den Armen, lief mit ihm wie rasend quer über die Wege und hoffte immer, daß sie es einschläfern, daß sie dies Schreien, das ihr das Herz aus dem Leib riß, zum Schweigen bringen könnte. Da war sie plötzlich entkräftet, selbst in Todesangst durch diesen langen Todeskampf, vor der Grotte angekommen, – da stand sie nun zu Füßen der Jungfrau, die Wunder wirkte, Verzeihung gewährte und heilte!
    »O Jungfrau! Wunderbare Mutter, heile sie! ... O Jungfrau! Mutter der göttlichen Gnade, heile sie! ...«
    Sie war auf die Knie gefallen und hielt ihr sterbendes Kind auf zitternden Armen empor, schwärmerische Sehnsucht und Hoffnung erregten sie bis zum Wahnsinn. Sie fühlte auf ihren Fersen nicht den Regen, der hinter ihr, tosend wie ein überströmender Gießbach, niederklatschte, während heftige Donnerschläge die Berge erschütterten. Einen Augenblick hielt sie sich für erhört. Rose hatte einen leichten Stoß erhalten, als ob sie vom Erzengel besucht worden wäre. Die Augen standen offen, der Mund stand offen und sie war ganz weiß. Und sie stieß einen letzten schwachen Atemzug aus, dann schrie sie nicht mehr.
    »O Jungfrau, Mutter des Erlösers, heile sie! ... O Jungfrau, allmächtige Mutter, heile sie! ...«
    Sie fühlte jedoch ihr Kind leichter auf ihren ausgestreckten Armen. Und jetzt entsetzte sie sich, weil sie es nicht mehr klagen hörte, weil sie es so weiß sah mit seinen offenen Augen, seinem offenen Mund und ohne Atemzug. Warum lächelte sie nicht, wenn sie geheilt war? Auf einmal stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus, den Schrei einer Mutter, der den Donner in dem sich steigernden Gewitter übertönte. Ihre Tochter war tot! Und sie erhob sich ganz aufrecht, wandte dieser tauben Jungfrau, die die Kinder sterben ließ, den Rücken und ging im strömenden Gußregen wie eine Wahnsinnige davon. Der Blitz schlug ein und spaltete einen der nächsten Bäume mit einem riesigen Beilhieb, unter dem lauten Krachen des Donners und der fallenden, zerbrochenen Äste.
    Pierre war aufgesprungen, um Frau Vincent zu begleiten, zu führen und zu stützen. Aber er konnte ihr nicht folgen, da er sie bald hinter dem düstern Vorhang des Regens aus dem Gesicht verlor. Als er zurückkam, ging die Messe ihrem Schluß entgegen. Der Regen fiel weniger heftig und der amtierende Geistliche konnte endlich unter dem Schirm aus weißer, goldgestickter Seide weggehen, während eine Art Omnibus die wenigen Kranken erwartete, um sie ins Hospital zurückzuführen.
    Marie drückte die beiden Hände Pierres.
    »Wie bin ich glücklich!... Holen Sie mich nicht vor drei Uhr ab!«
    Im Regen, der feiner fiel und eigensinnig andauerte, trat Pierre in die Grotte ein und setzte sich auf die Bank neben der Quelle. Er wollte sich nicht zu Bett legen, denn in der nervösen Überreizung, in welcher er sich seit dem Vorabend befand, bereitete ihm der Schlaf trotz seiner Müdigkeit nur Unruhe. Der Tod der kleinen Rose hatte ihn soeben in einen noch fieberhafteren Zustand versetzt, denn er konnte den Gedanken an diese gequälte, mit dem Leichnam ihres Endes auf den kotigen Wegen herumirrende Mutter nicht verscheuchen. Welche Beweggründe bestimmten wohl die Beschlüsse der Jungfrau? Es befremdete ihn, daß sie eine Wahl treffen konnte. Er hätte wissen mögen, warum ihr Herz als Gottesmutter sich entschließen

Weitere Kostenlose Bücher