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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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konnte, von hundert Kranken nur zehn zu heilen, jene zehn Prozent, über die Doktor Bonamy eine Statistik aufgestellt hatte. Schon am Abend vorher hatte er sich gefragt, welche er ausgewählt haben würde, wenn ihm die Macht zu Gebote gestanden hätte, zehn von ihnen zu retten. Eine schreckliche Macht, eine furchtbare Wahl, zu der er den Mut nicht in sich gefühlt hätte. Warum diesen und warum nicht jenen? Wo blieb die Gerechtigkeit und wo die Güte? Stieg nicht aus den Herzen der Schrei empor, sich unendlich mächtig zu zeigen und alle zu heilen? Die Jungfrau erschien ihm grausam, schlecht unterrichtet, ebenso hart und gleichgültig wie die gefühllose Natur, die Leben und Tod aufs Geratewohl und nach Gesetzen verteilt, die dem Menschen unbekannt sind.
    Der Regen ließ nach. Pierre befand sich seit zwei Stunden hier, als er fühlte, daß seine Füße naß wurden. Er sah sich um und war sehr überrascht: die Quelle war durch die vergitterte Füllung ausgetreten. Schon befand sich der Boden der Grotte unter Wasser, und ein Wasserspiegel floß von außen herum, unter den Bänken bis zur Brustlehne des Gave. Die letzten Gewitter hatten die Wasseradern der Umgebung angeschwellt. Und er dachte, die Quelle, so wunderbar sie auch sein mochte, wäre doch den Gesetzen der anderen Quellen unterworfen, denn sie stand sicher mit natürlichen Behältnissen in Verbindung, in die das Regenwasser eindrang und in denen es sich ansammelte. Er entfernte sich, um keine nassen Füße zu bekommen.

V
    Pierre schritt weiter. Er hatte das Bedürfnis, reine Luft zu schöpfen, denn sein Kopf war so schwer, daß er den Hut abgenommen hatte, um seine brennende Stirn zu kühlen. Trotz der Ermüdung der vergangenen Nacht dachte er an keinen Schlaf, er wurde aufrechterhalten durch eine Empörung seines ganzen Wesens, die sich nicht legte. Es schlug acht Uhr, und er ging aufs Geratewohl weiter unter der herrlichen Morgensonne, die von einem fleckenlosen, durch das Gewitter rein gewaschenen Himmel herableuchtete.
    Plötzlich hob er jedoch den Kopf, um zu erkennen, wo er sei. Er staunte, denn er hatte schon ein Stück Wegs zurückgelegt und befand sich unterhalb des Bahnhofs, nahe beim städtischen Hospiz. An der Gabelung der zwei Straßen zögerte er, da er nicht wußte, welche Richtung er einschlagen sollte, als eine Hand sich freundlich auf seine Schulter legte.
    »Wohin gehen Sie zu dieser Stunde?«
    Es war Doktor Chassaigne, der, in seinen Überrock eingeknöpft und ganz schwarz gekleidet, seine hohe Gestalt gerade richtete.
    »Haben Sie sich denn verirrt? Bedürfen Sie irgendwelcher Auskunft?«
    »Nein, nein! Ich danke«, antwortete Pierre verwirrt. »Ich habe die Nacht mit der jungen Kranken, die mir nahesteht, vor der Grotte zugebracht und fühlte mich so unbehaglich, daß ich spazieren gehe, um mich zu erholen, ehe ich in den Gasthof zurückkehre und mich einen Augenblick ins Bett lege.«
    Der Doktor fuhr fort, ihn zu betrachten. Er las deutlich den schrecklichen Kampf in ihm, seine Verzweiflung, nicht glauben zu können, und das ganze Leiden seines nutzlosen Bemühens.
    »Ach, mein armes Kind!« flüsterte er. Dann sagte er väterlich:
    »Da Sie spazieren gehen, wünschen Sie, daß wir dies zusammen tun? Ich kam gerade von dieser Seite am Ufer des Gave herab. Kommen Sie doch, auf dem Rückweg werden Sie sehen, wie wunderschön der Horizont ist!«
    So ging er jeden Morgen ganz allein während zwei Stunden umher. Zuerst und gleich nach dem Aufstehen begab er sich auf den Kirchhof, um am Grab seiner Frau und seiner Tochter, das er zu jeder Jahreszeit mit Blumen schmückte, niederzuknien. Dann ging er wieder seines Wegs und kam erst zum Frühstück heim, wenn die Müdigkeit ihn dazu zwang.
    Pierre war einverstanden. Sie stiegen die abschüssige Straße Seite an Seite und ohne ein Wort zu sprechen hinab. Sie schwiegen lange. Diesen Morgen schien der Doktor noch bedrückter als sonst. Jetzt folgte die Straße dem Lauf des Gave auf dem rechten Ufer und der andern Seite der neuen Stadt. Man bemerkte die Gärten, die Rampen, die Basilika. Dann zeigte sich gerade gegenüber die Grotte in der nie erlöschenden Glut ihrer Kerzen, die der helle Tag etwas blaß erscheinen ließ.
    Doktor Chassaigne hatte den Kopf erhoben und machte das Kreuzzeichen. Pierre begriff ihn anfangs nicht. Als er dann die Grotte sah, betrachtete er mit Überraschung seinen alten Freund. Er fiel in sein Erstaunen vom Vorabend zurück, in das Erstaunen über diesen Mann der

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