Lourdes
die Kosten aller Art und die angehäuften Zinsen hatten diese Summe so vermehrt, daß sie jetzt beinahe sechsmalhunderttausend Frank betrug. Und da man andererseits das zur Vollendung der Kirche nötige Geld auf viermalhunderttausend Frank schätzte, so wäre eine Million nötig gewesen, um die junge Ruine vor dem sicheren Verfall zu retten. Von diesem Tage an konnten die Patres von der Grotte ruhig schlafen: sie hatten sie umgebracht, die Kirche war ebenfalls tot.
Die Glocken der Basilika stimmten ein Freudengeläute an, und der Pater Sempé herrschte. Er war als Sieger hervorgegangen aus diesem Riesenkampf, aus diesem Krieg bis aufs Messer, in dem man Steine tötete, nachdem man im verschwiegenen Schatten der Sakristeien einen Menschen getötet hatte. Und das alte Lourdes litt jetzt schwer unter dem Schaden, eigensinnig und unverständig gewesen zu sein, und seinen Kuraten, der in Mühsal und aus Liebe zu seiner Pfarrei gestorben war, nicht tatkräftiger unterstützt zu haben. Denn von da an wurde die neue Stadt unaufhörlich größer und gedieh auf Kosten der alten. Aller Reichtum floß der neuen Stadt zu, die Patres von der Grotte schlugen Geld aus allem, beteiligten sich an Fremdenherbergen und verkauften das Wasser der Quelle, obwohl es ihnen nach einer Bestimmung ihres Vertrags mit der Stadt untersagt war, sich irgendeinem Handel zu widmen. Das ganze Land wurde angesteckt. Der Triumph der Grotte hatte eine solche Gewinnsucht, eine so brennende, fieberhafte Gier nach Besitz und Genuß mit sich gebracht, daß sich unter dem Platzregen der Millionen eine außerordentliche Sittenverderbnis von Tag zu Tag weiter ausbreitete und Bernadettes Bethlehem dadurch in ein Sodom und Gomorrha umgewandelt wurde. Der Pater Sempé vollendete den Triumph Gottes inmitten der Abscheulichkeiten der Menschen und zum Unglück der Seelen. Riesenhafte Bauten wuchsen aus dem Boden hervor, fünf oder sechs Millionen waren schon ausgegeben, man hatte alles dem Willen geopfert, die Pfarrei auf die Seite zu schieben, damit man die ganze Beute für sich behalte. Die riesigen, kostspieligen Rampen waren nur da, um den Wunsch der Jungfrau, die begehrt hatte, daß man in Prozession zur Grotte komme, geschickt zu umgehen. Denn wenn man von der Basilika auf der linken Rampe hinab und auf der rechten wieder zu ihr hinaufstieg, so war das kein Prozessionszug, sondern ein Rundgang an Ort und Stelle. Aber die Patres hatten es zuwege gebracht, daß man von ihnen ausging und wieder zu ihnen zurückkam. Auf diese Weise waren sie die alleinigen Eigentümer, die herrlichen Besitzer der Grotte und konnten die ganze Ernte in ihre Speicher führen. Der Kurat Peyramale war in der Krypta seiner unausgebauten Kirchenruine begraben und Bernadette nach langem Todeskampf in der Ferne in einem Kloster gestorben, in dem auch sie zu dieser Stunde unter der Steinplatte einer Kapelle schlief.
Tiefes Schweigen herrschte, nachdem Doktor Chassaigne seine lange Erzählung beendet hatte. Dann erhob er sich mühsam von seinem Platze.
»Mein liebes Kind!« sagte er, »es ist gleich zehn Uhr, und ich wünsche, daß Sie ein wenig ruhen. Wir wollen zurückkehren.«
Pierre begleitete ihn schweigend. Sie gingen etwas rascheren Schrittes der Stadt zu.
»Ach ja!« begann der Doktor wieder, »es sind große, schreiende Ungerechtigkeiten und überaus schmerzliche Dinge vorgekommen. Aber was wollen Sie? Der Mensch verdirbt die schönsten Werke ... Und Sie können sich noch gar nicht vorstellen, wie schrecklich traurig das war, was ich Ihnen soeben erzählte. Man muß es sehen, man muß es mit dem Finger berühren. Wollen Sie, daß ich Ihnen diesen Abend das Zimmer der Bernadette und die unvollendete Kirche des Kuraten Peyramale zeige?«
»Gewiß, sehr gern.«
»Gut! Nach der Vieruhr-Prozession werde ich Sie vor der Basilika erwarten, und dann begleiten Sie mich.«
Sie sprachen nichts mehr, jeder war in seine Träumereien versunken.
Jetzt floß der Gave zu ihrer Rechten in einer tiefen Schlucht, einer Art Erdeinschnitt hin, in den er sich stürzte, so daß er unter den Staudengewächsen verschwunden schien. Bisweilen sah man aber wieder ein Stück seines matten, silberähnlichen Wasserspiegels. Weiter weg machte er eine plötzliche Krümmung, und dort sah man ihn breit durch eine Ebene fließen. Er dehnte sich zu belebten Flächen aus, die oft ihr Bett wechseln mußten, denn der aus Sand und Kieseln bestehende Grund war nach allen Richtungen hin ausgewaschen. Die Sonne begann
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