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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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mit einer besonderen Ermächtigung versehen waren. Sie ließen es dabei bewenden, das Seil aufzuheben und es hinter den Auserwählten wieder fallen zu lassen, ohne irgendwelchen anderen Bitten Gehör zu schenken. Sie zeigten sich sogar ein wenig barsch, da sie unbewußt Vergnügen daran fanden, die Macht und Gewalt auszuüben, mit der sie nur für einen Tag bekleidet waren. Man stieß sie wirklich heftig herum, und sie mußten, sich gegenseitig stützend, mit der ganzen Festigkeit ihres Rückgrats Widerstand leisten, um nicht mit Gewalt fortgerissen zu werden.
    Während sich sodann die Bänke vor der Grotte und der weite, abgesonderte Platz mit Kranken, kleinen Wagen und Tragbahren anfüllte, trieb sich die Menge, die unermeßliche Menge, in der Umgebung herum. Man ging vom Platz der Rosenkranzkirche aus und verlor sich in der Tiefe des den Gave entlangführenden Spazierwegs. Auf seiner ganzen Länge war der Bürgersteig schwarz von Leuten, schwarz von einer so dichten Menschenwelle, daß der Verkehr gehemmt wurde. Auf der Brustwehr saßen Frauen in endloser Reihe, einige standen sogar darauf, um besser zu sehen, und ließen die helle, festlich heitere Seide ihrer Sonnenschirme im Licht der Sonne schimmern. Man hatte eine Allee freibehalten wollen, um die Kranken heranzuführen. Aber sie wurde fortwährend von der Menge überlaufen und versperrt, so daß die Wagen und Tragbahren überflutet und verloren auf dem Weg steckenblieben, bis ein Sänftenträger ihnen Platz machte. Die große, umhertrampelnde Herde zeigte sich jedoch folgsam und willig und als eine Menge von unschädlichen, lammfrommen Leuten. Niemals war ein Unfall vorgekommen, trotz der nach und nach sich steigernden Aufregung, die die Leute in ein zügelloses Delirium versetzte.
    Der Baron Suire bahnte sich abermals einen Durchgang.
    »Berthaud!« rief er, »Berthaud! Geben Sie doch darauf acht, daß der Vorbeimarsch langsamer vor sich geht! Man erdrückt ja Frauen und Kinder im Gedränge!«
    Dieses Mal machte Berthaud eine Gebärde der Ungeduld.
    »Zum Donnerwetter!« sagte er, »ich kann nicht überall sein! Schließen Sie doch einen Augenblick das Gitter, wenn es nötig ist!«
    Es handelte sich um den Zug, den man während des ganzen Nachmittags die Grotte passieren ließ. Die Gläubigen traten zur linken Tür ein und durch die rechte wieder heraus.
    »Das Gitter schließen!« schrie der Baron. »Aber dann wird es noch schlimmer, die Leute werden daran zerschellen.«
    Auch Gérard war da, der sich vergaß und einen Augenblick mit Raymonde auf der andern Seite des Seils plauderte. Sie hielt eine Schale mit Milch in der Hand, die sie einer alten, gichtbrüchigen Frau brachte. Berthaud befahl ihm, zwei Mann an die Eingangstür des Gitters zu stellen und ihnen die Weisung zu geben, die Pilger nur noch in Abteilungen von zehn zu zehn eintreten zu lassen. Als Gérard diesen Befehl ausgeführt hatte und zurückkam, sah er Berthaud mit Raymonde lachen und scherzen. Sie entfernte sich, und die zwei Männer betrachteten sie, während sie der Gichtbrüchigen zu trinken gab.
    »Sie ist reizend, und du heiratest sie. Das ist entschieden, nicht wahr?«
    »Ich werde diesen Abend meinen Antrag bei ihrer Mutter machen. Ich rechne darauf, daß du mich begleitest.«
    »Ganz ohne Zweifel. Du weißt, was ich dir gesagt habe, nichts ist vernünftiger. Der Onkel wird dich unterbringen, ehe ein halbes Jahr vergangen ist.
    Ein Stoß brachte sie auseinander. Berthaud ging, um sich durch eigenen Augenschein zu vergewissern, ob der Zug jetzt in Ordnung und ohne Gedränge vor sich gehe. Seit Stunden bestand er noch immer aus dem nämlichen ununterbrochenen Strom von Frauen, Männern und Kindern, einem Strom von all denen, die etwas wünschten und die, aus der ganzen Welt zusammengekommen, hier vorüberschritten. Auch die Standesklassen fanden sich in eigentümlicher Weise vermischt: Bettler in Lumpen gingen an der Seite behäbiger Bürger, Bäuerinnen neben wohlgekleideten Damen, Mägde in bloßen Haaren und barfüßige Mädchen neben gepflegten jungen Damen. Der Eintritt war frei. Das Geheimnis öffnete sich für alle, dem Ungläubigen wie dem Gläubigen, denen, die nur die Neugierde antrieb, und denen, die hier mit einem vor Hingabe schwachen Herzen eindrangen. Man mußte sehen, wie sie alle fast im gleichen Grade gerührt waren und wie sie im schwülen Wachsgeruch ein wenig atemlos infolge der schweren Tabernakelluft, die sich unter dem Felsen ansammelte, auf ihre Füße

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