Lourdes
niederblickten, aus Furcht, auf den eisernen Gitterflechten auszuglitschen. Viele waren verwirrt, verbeugten sich nicht einmal, sondern prüften die Dinge mit der heimlichen Unruhe von Gleichgültigen, die sich in das furchtbare, unbekannte Innere eines Heiligtums verirrten. Die Frommen aber bekreuzigten sich, warfen manchmal Briefe, legten Kerzen und Sträuße nieder, küßten den Felsen zu Füßen der Jungfrau, oder aber sie rieben an dieser Stelle Rosenkränze, Medaillen und kleine fromme Gegenstände, denn die Berührung allein genügte, um die Sachen zu weihen. Und der Zug setzte sich fort, er nahm kein Ende, er dauerte tagelang, monate- und jahrelang. Die ganze Erde schien das Innere dieses Felsenwinkels zu durchschreiten: alles Elend und alle menschlichen Leiden schienen der Reihe nach vorüber zu kommen und Glück und Heilung zu suchen.
Als Berthaud festgestellt hatte, daß die Dinge sich überall gut anließen, ging er als einfacher Zuschauer herum und überwachte seine Leute. Nur die Prozession, in der das heilige Sakrament mitgetragen wurde, verursachte ihm noch Sorgen, denn dann brach jedes Mal ein so rasender Wahnwitz aus, daß stets Unfälle zu befürchten waren. Und dieser letzte Tag kündigte sich durch den Schauer eines überspannten Glaubens, den er schon aus der Menge aufsteigen fühlte, als besonders schwer an. Die Begeisterung steigerte sich bis zum höchsten Punkt, denn das Fieber der Reise, die Plage der endlos wiederholten, stets gleichen Gesänge, das eigensinnige Verharren bei den gleichen religiösen Übungen, die fortwährenden Unterhaltungen über die Wunder und die stets auf den göttlichen Flammenglanz der Grotte geheftete fixe Idee, das alles trug zu ihrem Ausbruch bei. Viele Pilger schliefen seit drei Nächten nicht und kamen deshalb in einem Zustand visionären Wachens an. Sie wandelten in einem Traum, der ihre Aufregung nur noch steigerte. Es wurde ihnen keine Ruhe gelassen, die unausgesetzten Gebete hatten gleichsam die Wirkung einer Peitsche, die ihre Seelen geißelte. Keinen Augenblick hörten die Rufe zur Heiligen Jungfrau auf, Priester auf Priester bestieg die Kanzel, rief das allgemeine Weh aus und leitete die verzweifelten, dringenden Bitten der Menge während der ganzen Zeit, da die Kranken vor der bleichen Marmorstatue verweilten, die mit gefalteten Händen und zum Himmel erhobenen Augen leise lächelte.
In diesem Augenblick war die Kanzel aus weißem Stein, die rechts vor der Grotte am Felsen stand, von einem Priester aus Toulouse besetzt. Berthaud kannte ihn und hörte ihm einen Augenblick befriedigt zu. Es war ein dicker Mann mit fetter Stimme, berühmt durch seine rednerischen Erfolge. Übrigens bestand hier seine ganze Beredsamkeit in einer ausdauernden Lungengymnastik und einer ungestümen Art, den Satz, den Schrei, den das gesamte Volk wiederholen mußte, aus der Brust zu stoßen. Denn seine ganze Predigt war fast nur ein von Ave und Vaterunser unterbrochenes Geschrei.
Der Priester hatte den Rosenkranz zu Ende gebetet. Nun mühte er sich ab, sich auf seinen kurzen Beinen größer zu machen, und stieß den ersten Ruf einer Litanei aus, die er selbst erdachte und nach der Eingebung, die ihn erfaßt hatte, fortsetzte.
»Marie, wir lieben dich!«
Und das Volk wiederholte mit leiser, verworrener und gebrochener Stimme:
»Marie, wir lieben dich!«
Von da an hörte es nicht mehr auf. Die Stimme des Priesters erklang laut und mächtig, und das Volk sprach die Worte mit schmerzlichem Stammeln nach:
»Marie, du bist unsere einzige Hoffnung!«
»Marie, du bist unsere einzige Hoffnung!«
»Reine Jungfrau, mache uns reiner unter den Reinen!«
»Reine Jungfrau, mache uns reiner unter den Reinen!«
»Mächtige Jungfrau, rette unsere Kranken!«
»Mächtige Jungfrau, rette unsere Kranken!«
Oft, wenn seine Einbildungskraft nicht nachkam, oder wenn er wünschte, daß ein Ruf noch tieferen Eindruck machte, wiederholte er ihn sogar dreimal, während die gehorsame Menge, zitternd unter der Ermattung dieses hartnäckig fortgesetzten, sein Fieber erhöhendes Klagegeschreis, ihm alles dreimal nachsprach.
Die Litanei dauerte fort, und Berthaud kehrte nach der Grotte zurück. Denen, die im Innern vorüberzogen, bot sich, sobald sie der Kranken ansichtig wurden, ein außerordentliches Schauspiel. Der ganze weite Raum zwischen den Seilen war von den tausend bis zwölfhundert Kranken angefüllt, die die nationale Pilgerfahrt hergebracht hatte. Sie bildeten unter dem hohen, reinen
Weitere Kostenlose Bücher