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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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überhäuft hatte. Denn sie bildete sich ein, auch er hätte seinen Anteil am Wunder erhalten, auch er, der ihrem Herzen so nahe stand, hätte sich umfangen gefühlt vom Strahl der Gnade, der ihr Fleisch gesunden ließ und sie auf die Füße stellte. Sie wähnte, er sei durch die nämliche göttliche Kraft gehoben, seine Seele vom Zweifel gerettet und dem Glauben wiedergegeben worden. Wie hätte er bei ihrer außerordentlichen Heilung zugegen sein können, ohne überzeugt zu werden? Überdies hatte sie die vorige Nacht vor der Grotte gebetet! Im Übermaß ihrer Freude erblickte sie auch ihn in einer Verklärung, und glaubte, auch er weine und lache, weil er Gott wiedergegeben sei. Das steigerte ihr Glücksfieber noch mehr, sie zog ihren Wagen mit unermüdlicher Hand, sie hätte ihn meilen- und meilenweit ziehen mögen, immer höher hinauf bis auf unzugängliche Bergesgipfel, bis in den blendenden Glanz des Paradieses, als ob sie auf diesem dröhnenden Aufstieg ihr doppeltes Kreuz getragen hätte, ihre eigene Erlösung und die Erlösung ihres Freundes.
    »Pierre!« stammelte sie, »Pierre, wie gut ist es doch, daß uns dies große Glück zusammen, daß es uns miteinander zuteil wurde! Ich hatte es so inbrünstig von ihr begehrt und sie war gnädig. Sie hat auch Sie gerettet, indem sie mich rettete! ... Oh, ich habe gefühlt, wie sich Ihre Seele in meine Seele ergoß. Sagen Sie mir, daß unsere gegenseitigen Gebete erhört worden sind, daß ich Ihr Heil erwirkte, wie Sie mein Heil bewirkt haben!«
    Er begriff ihren Irrtum und zitterte.
    »Wenn Sie wüßten«, fuhr sie fort, »wie zum Tode betrübt ich wäre, wenn ich so ganz allein zum Licht aufsteigen müßte. Oh, wie schmerzlich wäre es mir, ohne Sie erwählt zu sein, ohne Sie da hinauf zu gehen! Aber mit Ihnen, Pierre, ist es ein Entzücken! ... Gemeinsam gerettet und glücklich für immer! Ich fühle die Kraft in mir, glücklich zu werden. Oh, ich habe Kräfte, um die Welt in die Höhe zu heben.«
    Er mußte ihr doch eine Antwort geben, und so log er, weil er sich gegen den Gedanken auflehnte, diese erhabene reine Glückseligkeit zu trüben und zu verderben.
    »Ja, ja! Seien Sie glücklich, Marie! Denn ich selbst bin sehr glücklich, und alle unsere Schmerzen sind ausgeglichen.«
    Aber durch sein Wesen ging ein tiefer Riß, als ob er plötzlich gefühlt hätte, wie ein roher Beilhieb sie voneinander trennte. In ihren bisherigen gemeinsamen Leiden war sie die kleine Freundin seiner Kindheit geblieben, das erste harmlos begehrte Weib, von dem er wußte, daß er stets ihm gehörte, weil es niemandem angehören konnte. Nun war sie geheilt, er blieb also allein in seiner Hölle und mußte sich sagen, daß sie nie mehr ihm gehören würde. Dieser plötzlich auftauchende Gedanke bestürzte ihn derart, daß er die Augen abwandte. Er war in Verzweiflung darüber, daß das wunderbare Glück, über das sie frohlockte, ihm Leid bereitete.
    Der Gesang setzte sich fort, und der Pater Massias stieß, ohne etwas zu hören oder zu sehen, ganz dem glühenden Dankgefühle gegen Gott hingegeben, mit donnernder Stimme den letzten Vers aus:
    »Sicut locutus est ad patres nostros et Abraham semini in saecula.«
    Noch eine Rampe war zu erklimmen und noch ein Kraftaufwand zu machen, um über die glatten breiten Steinfliesen hin die Höhe des steilen Weges zu erreichen! Die Prozession stieg immerzu aufwärts und vollendete den Aufstieg bei vollem, hellen Tageslicht. Es kam die letzte Biegung und die Räder des Wagens rasselten gegen die Graniteinfassung. Immer höher, immer höher rollte er, er stieß an den Rand des Himmels.
    Da erschien auf einmal der Altarhimmel auf dem Gipfel der riesenhaften Rampen, dann vor der Tür der Basilika, und schließlich auf dem steinernen Balkon, der das weite freie Feld beherrschte. Der Abbé Judaine trat hinaus und hielt das heilige Sakrament mit beiden Händen in die Luft. In seiner Nähe hatte Marie ihren Wagen nach vorn gezogen, ihr Herz schlug von der Anstrengung des Marsches und ihr Gesicht flammte im Gold der aufgelösten Haare. Hinten stand der Klerus in Reihen, die Priester in schneeweißen Chorhemden und glänzenden Meßgewändern, während die Kirchenfahnen flatterten wie die Banner und Wimpel, die die weißen Balkongeländer schmückten.
    Es war eine feierliche Minute.
    Man konnte sich nichts Großartigeres denken als die Aussicht, die man von da oben genoß. Zuerst sah man unten die Menge, das düster flutende Menschenmeer. In der sich

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