Lourdes
stumm vor Ergriffenheit. »Du erinnerst dich noch an das, was du mir selbst erzählt hast von jener Joachine Dehaut, die aus Belgien gekommen war und ganz Frankreich durchquert hatte mit ihrem verkrüppelten, von Geschwüren bedeckten Beine. Zuerst wurde das Geschwür geheilt. Man konnte das Knie drücken, ohne daß sie etwas verspürte; es blieb nur eine leichte Röte zurück. Dann kam die Verrenkung an die Reihe. Im Wasser schrie sie, es war ihr, als ob man ihr die Knochen zerbräche, als ob man ihr das Bein herausrisse. Zur gleichen Zeit sahen sie und die Frau, die sie badete, wie der ungestaltete Fuß sich wieder geradestreckte mit der Regelmäßigkeit eines Zeigers, der über ein Zifferblatt wandert. Das Bein richtete sich wieder ein, die Muskeln dehnten sich und das Knie trat an seinen richtigen Platz unter so heftigen Schmerzen, daß Joachine schließlich ohnmächtig wurde. Als sie aber wieder zu sich kam, sprang sie gewandt und rasch auf und trug ihre Krücken in die Grotte!«
Herr von Guersaint lachte entzückt über dieses Wunder und bestätigte durch Kopfnicken diese Erzählung, die er von einem Pater von Mariä Himmelfahrt hatte. Der hätte, wie er sagte, noch zwanzig ähnliche Fälle erzählen können, von denen der eine immer ergreifender und wunderbarer als der andere gewesen war. Er forderte Pierre zum Zeugen auf, und dieser, der nicht glaubte, begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln. Zuerst hatte er sich bemüht, um Marien nicht zu betrüben, sich zu zerstreuen, und zum Fenster hinausgesehen und die Felder, Bäume und Häuser, die vorüberflogen, betrachtet. Man durchfuhr gerade Angoulême, dessen endlos sich ausbreitende Wiesenflächen mit den langen Reihen von Pappelbäumen vor dem Wagenfenster vorüberglitten. Pierre hörte aber trotzdem, ganz gegen seinen Willen, Bruchstücke der Erzählungen und interessierte sich für diese Geschichten, die das laute Gerassel der Räder übertönten. Es war als ob die sich selbst überlassene Lokomotive sie alle in das göttliche Land der Träume geführt hätte. Man rollte dahin, man rollte weiter und weiter, und schließlich gab er es auf, hinauszublicken, und überließ sich ganz dem einschläfernden Einflüsse der drückenden Atmosphäre im Wagen, in dem die Verzückung wuchs, die wirkliche Welt aber, durch die man so raschen Laufes dahineilte, gänzlich entrückt war. Das neu belebte Gesicht Mariens erfüllte ihn mit aufrichtiger Freude. Er überließ ihr seine Hand, die sie ergriffen hatte, um ihm durch einen innigen Druck all die Hoffnungsfreudigkeit kundzutun, die in ihr eingekehrt war. Warum sollte er sie durch seinen Zweifel betrüben, da er doch ihre Heilung wünschte? Mit unendlicher Zärtlichkeit hielt er die kleine, krankhaft feuchte Hand in der seinigen fest. Von mitleidender brüderlicher Liebe erfüllt, wollte er gern an eine höhere Gnade glauben, die den Verzweifelten den Schmerz nach ihrem Ermessen zuteilt und wegnimmt.
»Pierre«, wiederholte sie, »wie ist das schön, wie ist das schön! Und welch ein Ruhm für mich, wenn sich die Heilige Jungfrau in ihrer Gnade meiner erbarmen würde ... Glauben Sie wirklich, daß ich dessen würdig bin?«
»Gewiß!« rief er laut. »Sie sind die beste und die reinste, die ganz fleckenlose Seele, und es gibt nicht genug gute Engel im Paradiese, um Ihnen als Ehrengeleit zu dienen.«
Aber das Erzählen war noch nicht zu Ende. Schwester Hyacinthe und Frau von Jonquière teilten jetzt alle Wunder mit, die sie kannten, eine lange Reihe von Wundern, die seit mehr denn dreißig Jahren in Lourdes emporblühten, wie der ununterbrochene Blütenreichtum der Rosen in einem zauberhaften Rosengarten. Man zählte sie nach Tausenden, und jedes Jahr wucherten neue empor in dem üppigen Grün eines verschwenderischen Wachstums, und erregten immer mehr Aufsehen. Die Kranken, die mit zunehmender Erregung zuhörten, waren wie die kleinen Kinder, die nach einem schönen Feenmärchen noch ein anderes und dann wieder ein anderes hören wollten. Oh, nur immer mehr solche Geschichten, in denen die schlimme Wirklichkeit verspottet und die ungerechte Natur geohrfeigt wird, in denen der liebe Gott als der letzte, der größte Heilkünstler erscheint, als der, der die Wissenschaft verlacht und Glück stiftet!
Es waren zunächst die Tauben und die Stummen, die wieder hören und sprechen konnten. Aurelie Bruneau, der das Trommelfell zersprungen und die deshalb unheilbar war, wurde ganz plötzlich durch die himmlischen Töne
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