Lourdes
laut bei dem Einzug in das Land des Wunders. Die Kranken stimmten unter Tränen, die ihnen ihre Schmerzen auspreßten, das Ave Maria Stella an. Ihr Schmerzensschrei nahm zu, bis sich die Klagen in Hoffnungsschreie auflösten.
Marie hatte die Hand Pierres wieder zwischen ihre kleinen, fieberheißen Finger genommen.
»O mein Gott! Nun ist der Mann gestorben, und ich fürchtete so sehr, sterben zu müssen, bevor wir das Ziel erreichten ... Aber jetzt sind wir da, jetzt sind wir endlich da!«
Der junge Priester zitterte vor tiefer Ergriffenheit.
»Sie müssen geheilt werden, Marie, und auch ich werde wieder genesen, wenn Sie für mich beten.«
Die Lokomotive ließ einen gellenden Pfiff durch die blaue Finsternis erschallen. Man hatte das Ziel erreicht, die Lichter von Lourdes erglänzten am Horizont, und der ganze Zug sang die Geschichte der Bernadette, ein endloses Klagelied, in dem der englische Gruß als Refrain wiederkehrte, ein Gesang, der den Himmel der Verzückung öffnete.
Zweiter Tag
I
Die Bahnhofsuhr zeigte drei Uhr zwanzig Minuten. Unter dem Schutzdach, das in einer Länge von ungefähr hundert Metern den Bahnsteig bedeckte, kamen und gingen Schatten in geduldiger Erwartung des Zuges. Weit draußen sah man in dem dunklen Gefilde ein rotes Signalfeuer blinken.
Zwei auf und ab wandelnde Männer blieben stehen. Der größere von ihnen, der ehrwürdige Pater Fourcade, Direktor der nationalen Pilgerfahrt, der schon am vorhergehenden Tage eingetroffen war, war ein Mann von sechzig Jahren. Sein schöner Kopf mit klaren, gebieterischen Augen und einem dichten, ergrauten Barte glich dem eines Feldherrn, aus dem das Siegesbewußtsein spricht. Er schleppte das eine Bein etwas nach, da er an der Gicht litt, und stützte sich auf die Schulter seines Begleiters, des Doktor Bonamy, der als Arzt bei dem Büro zur Feststellung der Wunder angestellt war, eines untersetzten, stämmigen Mannes mit einem breiten, rasierten Gesicht und ruhigen, etwas groben Zügen.
Pater Fourcade hatte den Bahnhofsvorstand, der mit raschen Schritten aus seinem Büro herausgetreten war, gefragt:
»Hat der weiße Zug viel Verspätung?«
»Nein, ehrwürdiger Vater, höchstens zehn Minuten. Er wird in einer halben Stunde hier sein ... Was mich aber beunruhigt, das ist der von Bayonne kommende Eilzug, der schon durchgefahren sein müßte.«
Er eilte fort, um einen Befehl zu erteilen. Dann kam er wieder zurück, ganz abgehetzt von der Aufregung, die ihn zur Zeit der Pilgerfahrten am Tage und bei der Nacht auf den Beinen hielt. Heute erwartete er, abgesehen von seinem gewöhnlichen Dienste, achtzehn Züge mit mehr als fünfzehntausend Reisenden. Die zuerst von Paris abgefahrenen Züge, der graue und der blaue, waren zur vorschriftsmäßigen Stunde eingetroffen. Die Verspätung des weißen Zuges war um so unangenehmer, als auch der Expreßzug aus Bayonne noch nicht angemeldet war. Man begriff die Aufregung, in der das Bahnpersonal lebte.
»Zehn Minuten also?« wiederholte Pater Fourcade.
»Ja, zehn Minuten, wenn wir nicht genötigt sind, die Strecke zu sperren«, rief der Bahnhofsvorstand, der nach dem Telegraphenbüro eilte.
Der Mönch und der Arzt nahmen ihren Spaziergang wieder auf. Sie waren mit Recht erstaunt, daß sich noch niemals ein ernster Unglücksfall bei diesem Durcheinander ereignet hatte, besonders in den letzten Jahren, in denen eine unglaubliche Unordnung herrschte. Der Pater erinnerte sich an die erste Pilgerfahrt, die er im Jahre 1875 geleitet hatte, an die schreckliche, endlose Fahrt ohne Kopfkissen, ohne Matratzen, mit halbtoten Kranken, bei denen man gar nicht wußte, wie man sie ins Leben zurückrufen sollte. Und vollends die Ankunft in Lourdes! Nicht das geringste Transportmaterial war hergerichtet, weder Tragbahren, noch Wagen. Heute war alles auf das beste geordnet, ein Hospital erwartete die Kranken, die man nicht mehr in Wagenschuppen auf Stroh zu legen brauchte. Welche Qual war das damals für jene Unglücklichen! Welche Willenskraft mußte der Mann besitzen, der sie dem Wunder zuführte! Der Pater lächelte sanft bei dem Gedanken an das Werk, das er vollbracht hatte.
Er fragte jetzt den Arzt, auf dessen Arm er sich stützte:
»Wie viele Pilger haben Sie denn im letzten Jahre gehabt?«
»Ungefähr zweimalhunderttausend. Das ist seither die Durchschnittssumme gewesen. Im Jahre der Krönung der Jungfrau stieg die Zahl auf fünfmalhunderttausend. Das war natürlich ein Ausnahmefall, der sicherlich beträchtlicher
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