Lourdes
und für Pierre. Sie war so müde, daß sie dareinwilligte, sich einen Augenblick ins Bett bringen zu lassen, nachdem sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, sogleich nach der Grotte geführt zu werden.
»Kommen Sie, mein Kind«, sagte Frau von Jonquière wiederholt, »Sie haben noch drei Stunden vor sich. Wir legen Sie in Ihr Bett. Sie werden Ruhe finden, wenn Sie nicht mehr in dieser Kiste sind.«
Sie hob die Kranke bei den Schultern in die Höhe, während Schwester Hyacinthe die Füße hielt. Das Bett befand sich in der Mitte des Saales nahe bei einem Fenster. Einen Augenblick lag die Kranke mit geschlossenen Augen da. Dann mußte Pierre wieder eintreten. Sie wurde sehr schwach und sagte, sie hätte ihm manches zu erklären.
»Gehen Sie nicht weg, mein Freund«, begann sie, »ich bitte Sie inständigst darum. Schaffen Sie die Kiste auf den Flur, aber bleiben Sie da. Denn ich will hinuntergebracht werden, sobald man mir die Erlaubnis geben wird.«
»Befinden Sie sich besser im Bett?« fragte der junge Priester.
»Ja, ja... ohne Zweifel... Übrigens, ich weiß nicht... Es drängt mich so sehr, mich zu den Füßen der Heiligen Jungfrau niederzuwerfen!«
Als Pierre die Kiste fortgeschafft hatte, wurde Marie gleichwohl zerstreut durch die Ankunft der Kranken. Frau Vêtu, die von zwei Trägern heraufgebracht worden war, wurde auf das benachbarte Bett gelegt. Dort verharrte sie unbeweglich, ohne einen Atemzug, mit dem gelben, plumpen, entstellten Aussehen einer Krebskranken. Keine der Kranken wurde entkleidet, man begnügte sich damit, sie auszustrecken, und gab ihnen den Rat, zu schlummern, wenn sie es fertig brächten. Die, die nicht im Bette lagen, waren damit zufrieden, auf dem Rand ihrer Matratzen zu sitzen. Sie plauderten untereinander und brachten ihre Sachen in Ordnung. Elise Rouquet öffnete ihren Korb, um demselben ein reines Busentuch zu entnehmen, und war sehr verdrießlich darüber, daß sie keinen Spiegel hatte. In weniger als zehn Minuten fanden sich alle Betten besetzt, so daß man anfangen mußte, Matratzen auf die Erde zu legen, als die von Schwester Hyacinthe und Schwester Claire des Anges getragene Grivotte erschien.
»Halt! Hier ist eine Matratze!« rief Frau Desagneaux. »Die Kranke wird an dieser Stelle, fern vom Luftzug der Tür, sich sehr gut befinden.«
In kurzem wurden sieben andere Matratzen ausgebreitet, die den ganzen mittleren Gang einnahmen. Man konnte nicht mehr hin und her gehen und mußte Vorsicht gebrauchen, um den schmalen Wegen zu folgen, welche man um die Kranken herum freigelassen hatte. Jede von ihnen hütete ihr Paket, ihre Schachtel, ihren Reisesack. Bei den improvisierten Lagerstellen bildete sich ein ganzer Haufen von armseligem Plunder, zwischen Tüchern und Bettdecken. Man hätte glauben können, in einem jammervollen Lazarett zu sein, das nach einer großen Katastrophe, einem Brand oder einem Erdbeben, das Hunderte von Verwundeten und Unglücklichen auf die Straße geworfen hatte, in Eile errichtet worden war.
Frau von Jonquière ging von einem Ende des Saales zum andern, indem sie fortwährend wiederholte:
»Nun, nun, meine Kinder! Regt euch nicht auf, trachtet, ein wenig zu schlafen!«
Aber sie vermochte sie nicht zu beruhigen. Man mußte bei mehreren Kranken die Wäsche wechseln, andere wollten ihre Notdurft verrichten. Eine, die an einem Geschwür am Bein litt, stieß solche Klagen aus, daß Frau Desagneaux es unternahm, den Verband zu erneuern. Aber sie war ungeschickt, und trotz ihres Mutes als leidenschaftliche Pflegerin wäre sie fast in Ohnmacht gefallen, so sehr setzte ihr der unerträgliche Geruch zu. Die sich am wohlsten befanden, begehrten Fleischbrühe, und die Tassen wanderten hin und wieder inmitten der Rufe, der Antworten, der sich widersprechenden und von niemand ausgeführten Befehle.
Die Stunden verrannen. Soeben schlug es sieben Uhr, als der Abbé Judaine eintrat. Er war Prediger des Saales Sainte-Honorine, und einzig die Schwierigkeit, einen Altar zu finden, um seine Messe zu lesen, hatte ihn verspätet. Sowie er erschien, erhob sich ein Schrei der Ungeduld von allen Betten.
»Oh, Herr Kurat, wir wollen aufbrechen, sogleich aufbrechen!«
Ein brennender Wunsch richtete sie auf, ein Wunsch, der von Minute zu Minute wuchs und ungestümer wurde, als ob ein heißer Durst sie ausgedörrt hätte, den nur die wunderbare Quelle stillen könnte. Ganz besonders war es die Grivotte, die, auf ihrer Matratze sitzend, die Hände faltete und flehte, man
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