Lourdes
möchte sie zur Grotte fortführen. War das nicht der Anfang des Wunders, dies Erwachen der Willenskraft, dies fieberhafte Genesungsbedürfnis, das sie wieder in die Höhe brachte? Regungslos und ohnmächtig war sie angekommen, jetzt saß sie aufrecht da, wandte ihre Blicke nach allen Seiten und zitterte nach der glückseligen Stunde, da man sie abholen würde.
»Bitte, Herr Kurat! Sagen Sie, man soll mich forttragen! Ich fühle, daß ich genesen werde!«
Der Abbé Judaine mit seinem guten Gesicht und dem Lächeln eines zärtlichen Vaters hörte die Kranken an und betörte ihre Ungeduld durch liebreiche Worte. In einem Augenblick würde man aufbrechen. Aber man müsse vernünftig sein und den Dingen Zeit lassen, sich zu entwickeln; und dann – die Heilige Jungfrau liebe es nicht, daß man sie dränge. Sie warte ihre Stunden ab und verteile die göttliche Gnade an die Bescheidensten.
Als er an dem Bett Mariens vorbeiging und gewahrte, wie sie mit gefalteten Händen eine demütige Bitte stammelte, blieb er neuerdings stehen.
»Auch Sie, meine Tochter«, sagte er, »wünschen so sehnlich aufzubrechen? Seien Sie ruhig, es wird Gnade geben für alle.«
»Mein Vater«, flüsterte sie, »die Sehnsucht verzehrt mich. Mein Herz ist allzu voll von Gebeten. Es erstickt mich.«
Er war sehr gerührt durch die leidenschaftliche Gemütsbewegung bei diesem armen, abgemagerten Kind, das in seiner Schönheit und seiner Jugend so hart getroffen worden war. Er wollte sie beruhigen, er wies sie auf ihre Nachbarin hin, Frau Vêtu, die sich nicht rührte, während sie gleichwohl ihre weit geöffneten Augen auf die vorübergehenden Leute richtete.
»Sehen Sie doch diese Frau an, wie ruhig sie ist! Sie sammelt sich in Andacht, sie hat wohl recht, sich wie ein kleines Kind in die Hände Gottes zu begeben.«
Aber mit einer Stimme, die man nicht hörte, stammelte Frau Vêtu kaum hauchend:
»Oh, wie ich leide, wie ich leide!«
Endlich, kurz vor acht Uhr, benachrichtigte Frau von Jonquière die Kranken, daß sie wohl daran täten, sich vorzubereiten. Von Schwester Hyacinthe und Frau Desagneaux unterstützt, knöpfte sie ihnen die Kleider zu und zog wieder Schuhe und Strümpfe an ihre kraftlosen Füße. Viele hatten das Anstandsgefühl, sich die Hände zu waschen. Andere packten ihren Staat aus und zogen reine Wäsche an. Elise Rouquet hatte endlich einen Taschenspiegel entdeckt. Sie hatte ihn aufrecht gegen ihr Kopfkissen gestellt. Dann knüpfte sie, ganz vertieft in ihr Geschäft, mit unendlicher Sorgfalt das Busentuch um den Kopf, um ihr scheußliches Gesicht mit der blutigen Wunde zu verbergen.
Jetzt gab der Abbé Judaine das Zeichen zum Aufbruch nach der Grotte. Er wollte seine lieben Leidenstöchter in Gott, wie er sagte, dorthin begleiten, während die Damen und die Schwestern dableiben sollten, um ein wenig Ordnung im Saale zu schaffen. Der Saal leerte sich sofort, und die Kranken wurden inmitten eines neuen Tumults hinabgeführt. Pierre, der die Kiste, in der Marie lag, wieder auf die Räder gestellt hatte, kam an die Spitze des Zuges, der aus etlichen zwanzig kleinen Wagen und Tragbahren bestand. Die anderen Säle leerten sich auf die gleiche Weise, der Hof war voll, und der Abmarsch vollzog sich auf gut Glück. Es war bald ein endloser Zug, der den ziemlich steilen Abhang der Avenue de la Grotte hinunterstieg, dergestalt, daß Pierre schon auf dem Plateau de la Merlasse angekommen war, als die letzten Träger den Hof des Hospitals verließen.
Es war acht Uhr, und die Sonne, eine triumphierende Augustsonne, stand schon hoch am Himmel, der eine bewunderswerte Reinheit zeigte. Vom Gewitter der Nacht gewaschen, schien die blaue Farbe der Luft ganz neu und von jugendlicher Frische. Der schreckliche Krankenzug bewegte sich im Glanze des strahlenden Morgens auf dem abschüssigen Pflaster dahin. Er nahm kein Ende. Die unabsehbare Reihe der Greuel verlängerte sich fortwährend und wurde zu einem ordnungslosen Gemisch aller Gebrechen. Krankheiten, die man für erloschen erachtete, traten wieder auf. Eine alte Frau litt am Aussatz, eine andere war mit Flechten bedeckt, wie ein Baum, der im Schatten verfault. Wassersüchtige kamen vorüber, aufgebläht wie Schläuche. Hände, von Rheumatismen verbogen, hingen über die Tragbahren hinab, und Füße, bis zur Unkenntlichkeit aufgetrieben, so daß sie mit Lumpen ausgestopften Säcken glichen. In einem kleinen Wagen sitzend suchte eine Wasserköpfige ihren übermäßig großen, allzu
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