Love
vom Baum fällt.
»Scott!«, keucht sie atemlos. »Scott, du hast mich er…« Aber dann verstummt sie.
Er kniet vor ihr und hat die eigene Kapuze zurückgeschla gen, sodass seine dunkle Mähne sichtbar ist, die fast so lang ist wie ihre Haare. Seine Ohrenschützer trägt er wie einen Kopfhörer um den Hals. Der Rucksack steht neben ihm, lehnt an dem Baumstamm. Er sieht zu ihr auf, lächelt, wartet dar auf, dass sie es stark findet. Und Lisey findet es stark. Sie fin det es sehr stark. Das täte jeder, denkt sie.
Es ist ein bisschen so, als dürfte sie in das Klubhaus, in dem ihre große Schwester Manda und ihre Freundinnen Piratin nen spielten …
Aber nein, es ist besser, weil es hier nicht nach altem Holz und feuchten Zeitschriften und verschimmeltem altem Mäu sedreck riecht. Es ist, als hätte er sie in eine völlig andere Welt entführt, sie in einen Zauberkreis gezogen, unter eine weiße Kuppel, die allein ihnen gehört. Die Kuppel hat einen Durch messer von sechs bis sieben Metern. In ihrer Mitte steht der Weidenstamm. Das Gras, aus dem er aufragt, ist noch voll kommen sommergrün.
»O Scott«, sagt sie, ohne Atemwölkchen vor ihrem Mund zu sehen. Hier drin ist es warm, merkt sie. Der Schnee auf den hängenden Zweigen hat den Raum darunter isoliert. Sie zieht den Reißverschluss ihres Parkas auf.
»Klasse, was? Jetzt hör dir die Stille an.«
Er verstummt. Sie ebenfalls. Anfangs meint sie, hier wäre überhaupt kein Laut zu hören, aber das stimmt nicht ganz. Es gibt einen. Sie kann ein in Samt gepacktes langsames Trom meln hören. Das ist ihr Herzschlag. Scott streckt ihr seine Hän de entgegen, zieht ihr die Handschuhe aus, ergreift ihre Hän de. Er küsst ihre Handflächen tief in der Mitte der Höhlung. Einige Augenblicke lang schweigen beide. Dann ist es Lisey, die das Schweigen bricht: Ihr Bauch knurrt vernehmlich. Scott bricht in Gelächter aus, lässt sich nach hinten an den Weiden-stamm fallen und zeigt mit dem rechten Finger auf sie.
»Ich hab auch Hunger«, sagt er. »Ich wollte dich eigentlich aus dieser Schneehose schälen und hier drin mit dir vögeln, Lisey – warm genug ist es dafür –, aber nach all der Anstren gung bin ich zu hungrig.«
»Vielleicht später«, sagt Lisey. Sie weiß zwar fast sicher, dass sie später zu voll sein wird, um zu vögeln, aber das macht nichts; wenn es weiter wie verrückt schneit, bleiben sie bestimmt noch eine Nacht im Antlers, und das ist ihr nur recht.
Sie öffnet den Rucksack und packt den Lunch aus. Es gibt zwei dicke Sandwichs mit Huhn (und viel Mayo), Salat in einer Plastikdose und zwei kräftige Scheiben von etwas, was sich als Rosinenkuchen entpuppt. »Lecker«, sagt er, als sie ihm einen der Pappteller gibt.
»Natürlich lecker«, sagt sie. »Wir sind unter dem Lecker-Baum.«
Er lacht. »Unter dem Lecker-Baum. Das gefällt mir.« Dann verblasst sein Lächeln, und er betrachtet sie ernst. »Hier ist es hübsch, oder?«
»Ja, Scott. Sehr hübsch.« Er beugt sich über das Essen; sie kommt ihm entgegen; sie küssen sich über dem Salat. »Ich liebe dich, kleine Lisey.«
»Ich liebe dich auch.« Und in diesem Augenblick, in die sem grünen und geheimen Schweigekreis, hat sie ihn niemals mehr geliebt.
Das weiß sie jetzt.
7 Obwohl Scott gesagt hat, er wäre hungrig, isst er nur ein halbes Sandwich und ein paar Gabeln Salat. Den Rosinen kuchen rührt er überhaupt nicht an, dafür trinkt er mehr als seinen Anteil von dem Wein. Lisey isst mit besserem Appetit, aber nicht so herzhaft, wie sie eigentlich erwartet hätte. Der Wurm der Ungewissheit nagt an ihr. Scott wird es schwerfallen, ihr zu erzählen, was immer er auf dem Herzen hat – und ihr das Zuhören vielleicht noch schwerer. Was sie am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass sie sich nicht vorstellen kann, worum es gehen mag. Irgendwelche Schwierigkeiten mit der Polizei der ländlichen Kleinstadt im Westen Pennsylvanias, wo er aufgewachsen ist? Hat er vielleicht ein uneheliches Kind? Hat es vielleicht sogar eine Art Teenager ehe gegeben, eine überstürzt eingegangene Verbindung, die schon zwei Monate später geschieden oder annulliert wurde? Irgendwas mit Paul, seinem früh gestorbenen Bruder? Was immer es ist, es steht ihr jetzt bevor. So sicher, wie auf Donner Regen folgt, hätte Good Ma gesagt. Er sieht sein Stück Kuchen an, scheint zu überlegen, ob er abbeißen soll, und holt dann stattdessen seine Zigaretten heraus.
Sie erinnert sich daran, wie er Familien sind Scheiße
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