Love
durchgehalten, ihretwegen durchgehalten, aber jetzt …
»Scott?«
Lisey dreht den Türknopf, öffnet die Tür. Er sitzt in dem Schaukelstuhl, genau wie sie es sich vorgestellt hat, und hat sich in seinen liebsten Good-Ma-African, die gelbe Häkel decke, gehüllt. Im Fernseher, dessen Lautstärke weit herunter gedreht ist, läuft sein Lieblingsfilm: Die letzte Vorstellung . Sein Blick geht nicht vom Bildschirm zu ihr herüber.
»Scott? Alles in Ordnung mit dir?«
Seine Augen bewegen sich nicht, sie blinzeln nicht einmal. Sie fängt an, große Angst um ihn zu haben, und im Hinter grund ihres Verstandes purzelt einer von Scotts seltsamen Ausdrücken
(Gomer)
von einem unheimlichen Fließband, und sie befördert ihn mit einer kaum ausgesprochenen Verwünschung
(Verschmickt noch mal!)
in ihr Unterbewusstsein zurück. Sie tritt ins Zimmer und spricht ihn erneut an. Diesmal blinzelt er tatsächlich – Gott sei Dank! –, dreht den Kopf, um sie anzusehen, und lächelt.
Dies ist das Scott-Landon-Lächeln, in das sie sich beim ersten Anblick verliebt hat. Vor allem deshalb, weil es seine Augen mit einbezieht, die mitzulächeln scheinen.
»He, Lisey«, sagt er. »Wieso bist du auf?«
»Das könnte ich dich auch fragen«, sagt sie. Sie sieht sich nach Alkohol um – eine Bierdose, vielleicht eine halb geleer te Bourbonflasche –, sieht aber keinen. Das ist gut. »Es ist spät, weißt du, sehr spät.«
Nun folgt eine lange Pause, während er sehr sorgfältig über diese Sache nachzudenken scheint. Dann sagt er: »Der Wind hat mich geweckt. Er hat ein Regenrohr an der Hauswand klappern lassen, und ich konnte nicht wieder einschlafen.«
Sie will etwas sagen, hält dann aber doch den Mund. Wenn man lange genug verheiratet ist – wie lange, dürfte von Ehe zu Ehe verschieden sein, vermutet sie, aber bei ihnen hat es ungefähr fünfzehn Jahre gedauert –, setzt eine Art Telepathie ein. Im Augenblick erklärt Scott ihr, dass er noch mehr zu sagen hat. Also wartet sie schweigend ab, ob sie recht behal ten wird. Das scheint der Fall zu sein. Er öffnet den Mund. Dann frischt draußen der Wind auf, und sie hört es: ein rasches leises Klappern wie von Metallzähnen. Er horcht mit leicht schiefem Kopf hinüber … lächelt schwach … kein nettes Lächeln … das Lächeln eines Menschen, der ein Geheimnis hat … und macht den Mund wieder zu. Statt auszusprechen, was er sagen wollte, sieht er wieder auf den Bildschirm, auf dem Jeff Bridges – ein sehr junger Jeff Bridges – und sein bes ter Freund jetzt nach Mexiko fahren. Wenn sie zurückkom men, wird Sam der Löwe tot sein.
»Glaubst du, du könntest jetzt schlafen?«, fragt sie ihn, und als er nicht antwortet, fängt sie wieder an, Angst zu haben. »Scott!«, sagt sie etwas schärfer als beabsichtigt, und als er wieder zu ihr hinübersieht (widerstrebend, bildet Lisey sich ein, obwohl er diesen Film schon mindestens zwei Dutzend Mal gesehen hat), wiederholt sie ihre Frage ruhiger: »Glaubst du, du könntest jetzt schlafen?«
»Vielleicht«, gibt er zu, und sie nimmt etwas wahr, das schrecklich und traurig zugleich ist: Er hat Angst. »Wenn du mit mir löffelst.«
»Bei dieser Kälte? Soll das ein Witz sein? Also los, mach den Fernseher aus und komm ins Bett.«
Das tut er, und sie liegt neben ihm, Löffel an Löffel, horcht auf den Wind und genießt die von Scott abgestrahlte Wärme.
Sie fängt an, ihre Schmetterlinge zu sehen. So ist es fast immer, wenn sie in den Schlaf abzudriften beginnt. Sie sieht große rot-schwarze Falter, die in der Dunkelheit ihre Flügel öffnen. Manchmal ahnt sie, dass sie solche Schmetterlinge auch in ihrer Todesstunde sehen wird. Dieser Gedanke ängs tigt sie, aber nur ein wenig.
»Lisey?« Das ist Scott aus weiter Ferne. Auch er driftet ab. Das spürt sie.
»Hm?«
»Es will nicht, dass ich rede.«
»Wer will das nicht?«
»Das weiß ich nicht.« Sehr leise, sehr fern. »Vielleicht ist es der Wind. Der eisige Nordwind aus …«
Das fehlende Wort könnte Kanada sein, ist es vermutlich, aber das lässt sich nicht bestimmt sagen, denn inzwischen sind sie beide im Land des Schlafs angelangt, und wenn sie es betreten, sind sie nie zusammen, und Lisey befürchtet, dass auch dies eine Vorahnung des Todes ist, eines Ortes, an dem es vielleicht Träume, aber keine Liebe, keine Geborgenheit, keine Hand gab, die man halten konnte, wenn am Ende des Tages Vogelschwärme vor der blutrot versinkenden Sonne vorbeizogen.
Dann folgt eine Periode
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