Love
Geschäfte an der Main Street in Castle Rock. Er wird oft erkannt, wehrt aber freundlich die Autogrammwünsche von Leuten ab, die eine Chance wittern, sich ein ein zigartiges Geschenk zu sichern, indem er behauptet, wenn er nicht an der Seite seiner Frau bleibe, würde er sie vermutlich erst an Ostern wiedersehen. Er mag seinen Sinn für Humor verloren haben, aber sie sieht ihn nie die Geduld verlieren, selbst wenn manche Autogrammjäger ihn bedrängen. Also scheint doch alles halbwegs in Ordnung zu sein mit ihm, als wäre er trotz der Trinkerei, der abgesagten Lesereise und des langsamen Fortschritts seines neuen Buchs doch einigermaßen er selbst.
Der erste Weihnachtstag ist ein glücklicher Tag mit vielen Geschenken und einem energischen mittäglichen Sprung ins Heu. Abends sind sie zum Weihnachtsessen bei Canty und Rich eingeladen, und beim Nachtisch fragt Rich Scott, wann er endlich als Produzent der nach seinen Romanen gedrehten Filme auftreten will. »Damit wird das große Geld verdient«, behauptet Rich, der anscheinend nicht weiß, dass von den bisher vier Verfilmungen drei gefloppt sind. Nur die Filmver sion von Empty Devils (die Lisey nie gesehen hat) hat Geld eingespielt.
Auf der Heimfahrt stößt Scotts Humor wieder herab wie ein großer alter B1-Bomber, und er imitiert Rich so umwerfend komisch, dass sie vor Lachen fast Magenkrämpfe bekommt. Und als sie auf dem Sugar Top Hill ankommen, laufen sie zu einem zweiten Sprung ins Heu nach oben. In der gelösten Stimmung danach denkt Lisey, falls Scott tatsächlich krank ist, sollten sich mehr Leute diese Krankheit holen, weil die Welt dann ein besserer Ort wäre.
Als sie am zweiten Weihnachtstag gegen drei Uhr auf wacht, weil sie auf die Toilette muss, ist er – wieder mal ein Déjà-vu- Erlebnis – nicht im Bett. Aber diesmal ist er nicht fort . Lisey hat gelernt, den Unterschied zu erkennen, ohne sich auch nur einzugestehen, was sie meint, wenn sie daran denkt
(fort)
was er manchmal tut, wohin er manchmal geht.
Sie uriniert mit geschlossenen Augen und horcht auf den Wind, der ums Haus heult. Er klingt kalt, dieser Wind, aber sie weiß nicht, was Kälte ist. Noch nicht. Lasst noch ein paar Wochen verstreichen, dann wird sie es wissen. Lasst noch ein paar Wochen verstreichen, dann wird sie alles Mögliche wissen.
Als sie fertig ist, wirft sie einen Blick aus dem Fenster im Bad. Es geht zur Scheune hinaus und zu Scotts Büro auf dem umgebauten Heuboden. Wäre er dort oben – und wenn er nachts nicht schlafen kann, geht er meistens dort hinüber –, würde sie Licht sehen, vielleicht sogar ganz leise die fröhli chen Jahrmarktsklänge seiner Rockmusik hören. Aber in die ser Nacht ist die Scheune dunkel, und die einzige Musik, die sie hört, stammt aus der Stimmpfeife des Windes. Das bereitet ihr Unbehagen; es lässt im Hintergrund ihres Bewusstseins Gedanken entstehen
(Herzinfarkt Schlaganfall)
die zu unangenehm sind, als dass man sich gründlich mit ihnen beschäftigen wollte, und gleichzeitig zu stark … weil er in letzter Zeit nicht richtig auf dem Damm war … um sie komplett zu ignorieren. Statt schlafwandelnd ins Schlaf zimmer zurückzukehren, geht sie also zur zweiten Tür, die auf den Flur im Obergeschoss hinausführt. Sie ruft seinen Namen und bekommt keine Antwort, sieht aber einen schmalen gol denen Lichtstreifen unter der geschlossenen Tür am Ende des Korridors. Und jetzt hört sie von dort hinten ganz leise Musik: keinen Rock 'n' Roll, sondern Country. Sie erkennt Hank Wil liams. Ole Hank singt »Kaw-Liga«.
»Scott?«, ruft sie wieder, und als sie keine Antwort be kommt, geht sie den Flur entlang, streicht sich die Haare aus den Augen, hört ihre nackten Füße über den Teppich streifen, der später auf dem Dachboden landen wird, und hat Angst, ohne einen Grund dafür nennen zu können, außer dass sie etwas mit Dingen zu tun hat, die
(fort)
entweder schon abgeschlossen sind oder abgeschlossen sein sollten. Unter Dach und Fach, hätte Dad Debusher wohl ge sagt; das war ein Ausdruck, den der alte Dandy aus dem Pool hatte, zu dem wir alle hinuntergehen, um zu trinken und un sere Netze auszuwerfen.
»Scott?«
Vor der Tür des Gästezimmers verharrt sie einen Augen blick, erfasst von einer grässlichen Vorahnung: Er sitzt tot in dem Schaukelstuhl vor dem Fernseher, von eigener Hand getötet, wieso hat sie das nicht kommen gesehen, sind nicht alle Symptome seit über einem Monat deutlich zutage ge treten? Er hat bis Weihnachten
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