Love
angebracht scheint, und umklammerte den Stiel des Spatens fester. Sie sah sich, wie sie ihn schwang. Sie sah ihn in der verschleierten August-sonne aufblitzen. Und das Purpurne teilte sich vor ihr, klaff te auseinander wie eine Platzwunde, und was es austreten ließ, war nicht Blut, sondern Licht: erstaunliches orangerotes Licht, das ihr Herz und ihren Kopf mit einer schrecklichen Mischung aus Freude, Entsetzen und Trauer erfüllte. Kein Wunder, dass sie diese Erinnerung in all diesen Jahren ver drängt hatte. Sie war zu viel. Viel zu viel. Dieses Licht schien der Luft des schwindenden Abends eine seidige Struktur zu verleihen, und der Schrei eines Vogels traf ihr Ohr wie ein Kiesel aus Glas. Ein Windhauch trug Hunderte von exoti schen Düften heran: Orchideen, Jasmin, Bougainvillea, ver blühende Rosen und, o Gott, nachtblühende Cereus -Kakteen. Was sie am heftigsten traf, war die Erinnerung an seine Haut an ihrer Haut, daran, wie sein Herzschlag den Kontrapunkt zu ihrem bildete, denn sie hatten im Antlers nackt im Bett gele gen und knieten jetzt nahe dem Hügelkamm nackt in den purpurnen Lupinen, nackt in den länger werdenden Schatten der Sweetheart-Bäume. Und über dem einen Horizont stieg die orangerote Kugel des Mondes auf, angeschwollen und kalt, während hinter dem anderen die Sonne als blutrote Feuer kugel versank. Sie hatte Angst, diese Mischung aus heftigem Licht könnte sie mit ihrer Schönheit töten.
Eine viel ältere Lisey, die mit dem Spaten, den ihre Hände umklammerten, auf ihrem Witwenbett lag, schrie auf vor Freude über das Erinnerte und vor Trauer über das Verlorene. Ihr Herz wurde geheilt, selbst während es erneut gebrochen wurde. Ihre Halssehnen traten stark hervor. Die geschwollenen Lippen verzogen sich, sodass ihre Zähne sichtbar wurden, platzten auf und ließen Blut in den Gully ihrer Mundhöhle fließen. Tränen liefen aus den Augenwinkeln über ihre Wangen und blieben wie exotische Edelsteine an ihren Ohren hän gen. Und ihr einziger klarer Gedanke war: O Scott, für so viel Schönheit waren wir nie geschaffen, für solche Schönheit waren wir nie geschaffen, wir hätten damals sterben sollen,
o mein Liebster, das hätten wir tun sollen: nackt und eng um schlungen wie Liebende im Märchen.
»Aber wir haben es nicht getan«, murmelte Lisey. »Er hat mich umarmt gehalten und gesagt, wir können nicht lange bleiben, weil es bald dunkel wird und sich dann selbst die meisten Sweetheart-Bäume in etwas Böses verwandeln. Aber er hat gesagt, es gibt noch etwas, was
4 »Es gibt noch etwas, was ich dir zeigen möchte, bevor wir zurückgehen«, sagt er und zieht sie hoch.
»O Scott«, hört sie sich sehr leise und mit schwacher Stim me sagen. »O Scott.« Das scheint das Einzige zu sein, was sie hervorbringen kann. In gewisser Weise erinnert sie das an das erste Mal, als sie einen Orgasmus kommen fühl te, nur zieht dieser sich hin und zieht sich hin und zieht sich hin, als sollte auf das ganze Kommen nie eine Ankunft folgen.
Scott führt sie irgendwohin. Sie spürt hohes Gras wispernd ihre Schenkel streifen. Dann hört das Wispern auf, und sie merkt, dass sie einem viel begangenen Weg durch die Lu pinenbestände folgen. Er führt unter die Bäume, die Scott Sweetheart-Bäume nennt, und sie fragt sich, ob es dort Leute gibt. Und wenn es welche gibt, wie halten sie es dann hier aus?, fragt Lisey sich. Sie möchte noch einmal zu diesem auf gehenden Koboldmond hinaufsehen, traut sich aber nicht.
»Sei unter den Bäumen lieber still«, sagt Scott. »Vermutlich sind wir noch einige Zeit sicher, aber sogar am Rand des Mär chenwalds kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Lisey glaubt nicht, dass sie lauter als flüsternd sprechen könnte, selbst wenn er es verlangen würde. Sie hat schon Mühe, o Scott herauszubringen.
Er steht jetzt unter einem der Sweetheart-Bäume, der aus sieht wie eine Palme, nur dass sein Stamm mit etwas Zottigem bewachsen ist, das mehr nach Pelz als nach Moos aussieht. »Gott, hoffentlich hat es niemand umgeworfen«, sagt er. »Als ich zuletzt hier war – in der Nacht, als du so wütend warst und ich meine Hand durch das dämliche Treibhausfenster gerammt habe –, war es noch in Ordnung … ah, dort drüben!« Er zieht sie vom Weg fort nach rechts. Und in der Nähe eines der beiden vorgeschobenen Bäume, die die Stelle zu bewa chen scheinen, wo der Weg im Wald verschwindet, sieht sie ein schlichtes Holzkreuz aus zwei Brettern. Lisey erscheinen sie als zwei
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