Love
schlichte Kistenbretter. Es gibt keinen Grabhü gel – der Boden ist hier im Gegenteil leicht eingesunken –, aber das Kreuz genügt, um diesen Ort als Grabstätte zu mar kieren. Auf dem Querbrett des Kreuzes steht ein sorgfältig geschriebener Name: PAUL .
»Ursprünglich hatte ich ihn mit Bleistift geschrieben«, sagt Scott. Seine Stimme klingt klar, scheint aber aus weiter Ferne zu kommen. »Dann hab ich es mit Kugelschreiber versucht, aber das hat natürlich nicht funktioniert, nicht auf so rauem Holz. Ein Magic Marker war da schon besser, aber die Schrift ist ausgebleicht. Zuletzt hab ich schwarze Farbe aus einem von Pauls alten Malen-nach-Zahlen-Sets genommen.«
Sie betrachtet das Kreuz im eigenartig gemischten Licht des sterbenden Tages und der aufsteigenden Nacht und denkt da bei (soweit sie überhaupt denken kann): Alles ist wahr. Was passiert zu sein scheint, als wir unter dem Lecker-Baum her vorgekommen sind, ist wirklich geschehen. Es ereignet sich jetzt, nur länger und klarer.
»Lisey!« Er ist ganz hektisch vor Freude – und warum zum Teufel auch nicht? Seit Pauls Tod hat er sich diese Welt nie mals mehr mit anderen teilen können. Bei seinen wenigen Besuchen musste er allein kommen. Um allein zu trauern. »Es gibt noch etwas anderes – lass mich es dir zeigen.«
Irgendwo ertönt eine Glocke, sehr leise, die vertraut klingt. »Scott?«
»Was?« Er kniet im Gras. »Was, Babylove?«
»Hast du nicht gehört …?« Aber das Läuten ist verstummt. Und bestimmt hat sie es sich nur eingebildet. »Ach, nichts. Was wolltest du mir noch zeigen?« Wobei sie denkt: Als hät test du mir nicht schon genug gezeigt.
Seine Hände suchen das hohe Gras am Fuß des Grabkreuzes ab, aber dort ist anscheinend nichts zu finden, und sein leicht dümmliches frohes Grinsen beginnt zu verblassen. »Vielleicht hat irgendwas sie …«, beginnt er, dann bricht er ab. Er verzieht einen Augenblick lang schmerzhaft das Gesicht, bevor er sich entspannt und beinahe hysterisch auflacht. »Hier liegt sie, und der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht geglaubt habe, dass die Nadel mich gepikt hat, dass der ganze Spaß auf meine Kos ten gegangen ist, ehrlich – nach all den Jahren! –, aber die Kappe steckt noch drauf! Sieh nur, Lisey!«
Sie hätte angenommen, dass nichts sie von den Wundern dieser neuen Welt ablenken könnte – von dem orangeroten Himmel im Osten und Westen, der über ihr in ein seltsames tiefes Grünblau übergeht, die vielfältigen exotischen Düfte und von irgendwoher wieder ferner, einsamer Glockenklang –, aber was Scott im letzten Tageslicht hochhält, schafft es spielend. Es ist die Injektionsspritze, die sein Vater ihm gegeben hat, damit er sich hier drüben notfalls gegen Paul verteidigen konnte. Die Metalleinfassung des Zylinders ist mit winzigen Rostpunkten gesprenkelt, ansonsten sieht sie aus wie neu.
»Sie war alles, was ich hier zurücklassen konnte«, sagt Scott. »Ich hatte kein Foto von ihm. Die Kinder, die in der Esels-schule waren, haben wenigstens jedes Jahr ein Foto von sich bekommen.«
»Du hast das Grab ausgehoben … Scott, du hast es mit blo ßen Händen gegraben?«
»Ich hab's versucht. Und ich habe eine kleine Mulde gegra ben – der Boden hier ist weich – aber das Gras … das Heraus ziehen hat mich aufgehalten … zähes altes Unkraut, Mann … und dann ist es langsam dunkel geworden, und die ersten Lacher waren zu hören …«
»Die Lacher?«
»Wie Hyänen, glaub ich, nur böser. Sie leben im Märchen wald.«
»Der Märchenwald – hat Paul ihn so genannt?«
»Nein, ich.« Er deutet auf die Bäume. »Paul und ich haben die Lacher nie aus der Nähe gesehen, wir haben sie meistens nur gehört. Aber wir haben andere Wesen gesehen … ich habe andere Wesen gesehen … vor allem eines …« Scott sieht zu der rasch dunkler werdenden Masse der Sweetheart-Bäume hin über, verfolgt den Weg, der unter den Bäumen rasch ver schwimmt. Als er weiterspricht, klingt seine Stimme unüber hörbar vorsichtig. »Wir müssen bald wieder zurück.«
»Aber du kannst uns zurückbringen, stimmt's?«
»Mit deiner Hilfe? Klar.«
»Dann erzähl mir, wie du ihn begraben hast.«
»Das kann ich dir erzählen, wenn wir wieder zurück sind. Dann haben wir …«
Aber ihr langsames Kopfschütteln bringt ihn zum Schwei gen.
»Nein. Ich verstehe jetzt, weshalb du keine Kinder haben willst. Das ist mir inzwischen klar. Würdest du jemals zu mir kommen und sagen: ›Lisey, ich hab es mir anders
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