Love
untergehende Sonne, leuchtend orangerot, stand am Ende eines scheinbar endlosen Lupinenfelds über dem Hori zont. Ihr gegenüber konnte Lisey den oberen Rand des aufge henden Mondes sehen – weit größer als der größte Vollmond zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Das ist nicht unser Mond, oder? Wie könnte er es sein?
Eine Brise zerzauste die Spitzen ihrer verschwitzten Haare, und irgendwo in nicht allzu weiter Ferne bimmelte eine klei ne Glocke. Ein Klang, an den sie sich erinnerte, eine Glocke, an die sie sich erinnerte.
Du solltest dich beeilen, findest du nicht auch?
Allerdings. Der Pool war ungefährlich, wenigstens hatte Scott das behauptet, aber der Weg dorthin führte durch den Märchenwald, für den dies nicht zutraf. Obwohl sie es nicht weit hatte, war sie gut beraten, sich zu beeilen.
Lisey trabte halb rennend den Hang zu den Bäumen hinauf und hielt Ausschau nach Pauls Grabkreuz. Sie konnte es nicht gleich sehen, aber dann entdeckte sie es. Es war weit zur Sei te gekippt. Eigentlich hatte sie keine Zeit, das Kreuz aufzu richten … aber sie nahm sich trotzdem die Zeit, weil Scott sie sich genommen hätte. Den silbernen Spaten (er war tatsäch lich ebenso mitgekommen wie das gelbe Häkelquadrat) legte sie kurz beiseite, um beide Hände gebrauchen zu können. Es musste hier so was wie Wetter geben, denn das einzelne, sorg fältig geschriebene Wort – PAUL – war fast bis zur Unkennt lichkeit verblasst.
Ich glaube, ich habe es auch letztes Mal aufgerichtet, dach te sie. Im Jahr 1996. Und ich hätte auch gern die Injektions spritze gesucht, aber dafür war keine Zeit.
Auch heute war dafür keine Zeit. Dies war Liseys dritter richtiger Besuch in Boo'ya-Mond. Der erste war nicht allzu schlimm gewesen, weil sie in Scotts Begleitung nicht weiter als bis zu dem verfallenen Wegweiser ZUM POOL gekom men war, bevor sie in ihr Zimmer im Antlers zurückgekehrt waren. Beim zweiten Mal hatte sie den Weg in den Märchen wald jedoch allein gehen müssen. Sie konnte sich nicht erin nern, wie viel Tapferkeit das erfordert haben musste, weil sie nicht gewusst hatte, wie weit es bis zu dem Pool war oder was sie dort vorfinden würde. Allerdings verlief auch dieser Be such hier nicht ohne Komplikationen: Sie war bis zur Taille nackt, ihre linke Brust mit der tiefen Schnittwunde begann wieder zu pochen, und Gott allein wusste, welche Ungeheuer der Blutgeruch anlocken konnte. Nun, es war zu spät, sich darüber Sorgen zu machen.
Und wenn mich etwas angreifen will, dachte sie, während sie den Spaten an seinem kurzen Stiel packte, zum Beispiel einer dieser Lacher, ziehe ich ihm mit Little Liseys treuer Wahnsinnsklatsche, Copyright 1988, Patent angemeldet, alle Rechte vorbehalten, kräftig eins über.
Irgendwo vor ihr bimmelte nochmals die Glocke. Barfuß, oben ohne, blutverschmiert, nur mit abgeschnittenen alten Jeans bekleidet und mit einem Silberspaten in der rechten Hand folgte Lisey dem rasch dunkler werdenden Weg in Rich tung Glocke. Der Pool lag vor ihr, war bestimmt nicht weiter als eine halbe Meile entfernt. Dort war sie selbst nach Ein bruch der Dunkelheit sicher; dort würde sie die wenigen Klei dungsstücke ablegen, die sie noch trug, und sich im Pool waschen.
Unter dem Laubdach der Bäume wurde es sehr schnell finster. Lisey spürte den Drang, sich zu beeilen, stärker denn je, aber als der Wind nochmals die Glocke anschlagen ließ – sie war jetzt sehr nahe, und Lisey wusste, dass sie mit einer kräftigen Schnur an einem Ast aufgehängt war –, machte sie halt, plötzlich gefangen in einem komplexen Geflecht aus einander überlagernden Erinnerungen. Dass die Glocke an einer Schnur hing, wusste sie, weil sie sie bei ihrem letzten Besuch vor zehn Jahren gesehen hatte. Aber Scott hatte sie lange davor geklaut, sogar lange vor ihrer Hochzeit. Das wusste Lisey, weil sie die Glocke im Jahr 1979 gehört hatte. Schon damals hatte sie auf unangenehme Weise vertraut ge klungen. Deshalb unangenehm, weil der Klang dieser Glocke ihr schon lange vor ihrem ersten Besuch in Boo'ya-Mond ver hasst gewesen war.
»Und ich hab ihm davon erzählt«, murmelte sie, indem sie den Spaten in die andere Hand nahm und sich die Haare aus der Stirn strich. Das gelbe Freudenstück lag auf ihrer linken Schulter. Um sie herum rauschten die Sweetheart-Bäume wie flüsternde Stimmen. »Er hat nicht viel gesagt, aber er muss es sich zu Herzen genommen haben.«
Sie setzte sich wieder in
Weitere Kostenlose Bücher