Love
sich flüchten, wenn sie Angst haben oder einsam sind oder sich einfach nur langweilen. Sie nennen es Nimmerland oder Auenland, auch Boo'ya-Mond, wenn sie viel Fantasie haben und sich den Namen selbst ausdenken. Die meisten vergessen ihn später wieder. Die wenigen Begabten wie Scott schirren ihre Träume an und machen sie zu Zugpferden.«
»Du warst auch ziemlich begabt. Schließlich hast du dir Südwind ausgedacht, nicht wahr? Das haben die Mädchen da heim jahrelang gespielt. Mich würde es nicht wundern, wenn es draußen an der Sabbatus Road Mädchen gäbe, die noch heute eine Version davon spielen.«
Amanda schüttelte lachend den Kopf. »Leute wie ich waren nie dafür bestimmt, wirklich nach drüben zu kommen. Meine Fantasie war gerade lebhaft genug, um mich in Schwierigkei ten zu bringen.«
»Manda, das ist nicht wahr …«
»Doch«, sagte Amanda, »es ist wahr. Die Klapsmühlen sind voll von Leuten wie mir. Unsere Träume schirren uns an, und sie peitschen uns mit weichen Peitschen – oh, mit herrlichen Peitschen –, und wir rennen, und wir rennen, immer nur auf der Stelle … weil das Schiff … Lisey, seine Segel werden nie gesetzt, und es lichtet nie den Anker …«
Lisey riskierte noch einen Blick zu ihr hinüber. Amanda lie fen Tränen über die Wangen. Auf die Steinbänke in der ande ren Welt flossen vielleicht keine Tränen, aber hier … ja, hier gehörten sie zum verschmickten Menschsein.
»Ich hab gewusst, dass ich nach drüben unterwegs war«, sagte Amanda. »Als wir oben in Scotts Büro waren … als ich mein dämliches kleines Notizbuch mit bedeutungslosen Zah len vollgekritzelt habe, hab ich's die ganze Zeit gewusst …«
»Dieses kleine Notizbuch hat sich als Schlüssel zu allem er wiesen«, sagte Lisey, die sich erinnerte, darin STOCKROSEN und mein gott gelesen zu haben … eine Art Flaschenpost. Oder ein weiteres Bool: Lisey, hier ist, wo ich bin, bitte komm und finde mich.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Amanda.
»Absolut.«
»Das ist echt komisch. Diese Notizbücher hat Scott mir ge schenkt, weißt du – praktisch einen lebenslangen Vorrat. Zum Geburtstag.«
»Ehrlich?«
»Ja, im Jahr vor seinem Tod. Er hat gemeint, sie könnten vielleicht mal nützlich sein.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Nun, bei einem scheint das gestimmt zu haben.«
»Ja«, sagte Lisey, die sich fragte, ob auch auf allen anderen Rückendeckelinnenseiten in winzig kleiner dunkler Schrift mein gott unter dem Schutzumschlag stand. Vielleicht würde sie das irgendwann kontrollieren. Das heißt, wenn Amanda und sie lebend aus dieser Sache herauskamen.
4 Als Lisey in der Ortsmitte von Castle Rock das Tempo drosselte, um zum Sheriff's Office abzubiegen, umklammer te Amanda ihren Arm und fragte, was um Himmels willen sie vorhabe. Anschließend hörte sie sich die Erklärung ihrer Schwester mit wachsender Verwunderung an.
»Und was soll ich tun, während du Anzeige erstattest und Vordrucke ausfüllst?«, fragte Amanda in sarkastischem Ton. »In diesem Pyjama, der oben meine Titten und unten meine Muschi durchschimmern lässt, auf der Bank vor der Registratur sitzen? Oder soll ich inzwischen einfach im Auto bleiben und Radio hören? Und wie willst du erklären, dass du barfuß auf kreuzt? Oder was ist, wenn schon jemand aus Greenlawn ange rufen hat, damit das Sheriff's Department Ausschau nach der Witwe des Schriftstellers hält, die ihre Schwester oben im Toll haus besucht hat, wonach beide verschwunden sind?«
Lisey war, wie ihr nicht sonderlich brillanter Vater es ausgedrückt hätte, voll aus der Fassung gedreht. Sie war so auf die Probleme fixiert gewesen, Manda aus dem Nowhere Land zurückzuholen und mit Jim Dooley fertig zu werden, dass sie ihren gegenwärtigen leicht bekleideten Zustand ganz vergessen hatte – von etwaigen Konsequenzen des Großen Aus bruchs ganz zu schweigen. Jetzt standen sie auf einem der schräg angeordneten Parkplätze vor dem Klinkergebäude des Sheriff's Department zwischen einem Streifenwagen der State Police, der zu Besuch hier war, links von ihnen, und einem viertürigen Ford, auf dessen Seite CASTLE COUNTY SHERIFF'S DEPT. stand, rechts von ihnen, und Lisey fühlte sich von Se kunde zu Sekunde klaustrophobischer. Der Titel eines Countrysongs – »What Was I Thinking?« – fiel ihr ein.
Aber das war natürlich lächerlich: Sie waren nicht auf der Flucht, Greenlawn war kein Gefängnis, und Amanda war freiwillig dort gewesen, aber ihre nackten Füße … wie sollte sie
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