Love
frisch genähten Opera tionswunden sehen wie die Kinderzeichnung von einem Vogel aus. Die aus seinem Rücken ragenden Schläuche wirken im Vergleich zu den vorderen fast grotesk groß. Liseys bestürztem Blick erscheinen sie groß wie Kühlerschläuche. Da sie durchsichtig sind, kann sie verfolgen, wie eine mit blutigen Gewebefetzen angereicherte trübe Flüssigkeit zu einem koffer förmigen Gerät hinunterläuft, das hinter seinem Bett steht. Dies ist nicht Nashville; dies war keine .22er-Kugel; obwohl ihr Herz lautstark dagegen protestiert, genügt ein Blick, um ihren Verstand davon zu überzeugen, dass Scott den Sonnenaufgang nicht mehr erleben wird.
»Scott«, sagt sie, sinkt neben dem Bett auf die Knie und nimmt seine heißen Hände in ihre kühlen. »Was zum Teufel hast du diesmal mit dir angestellt?«
»Lisey.« Er schafft es, ihre Hand leicht zu drücken. Sein Atmen ist ein unregelmäßiges, pfeifendes Keuchen, an das sie sich von jenem Tag auf dem Parkplatz nur allzu gut erinnert. Sie weiß genau, was er als Nächstes sagen wird, und Scott enttäuscht sie nicht. »Mir ist so heiß, Lisey. Eis …? Bitte?«
Sie wirft einen Blick auf seinen Nachttisch, aber der ist leer. Sie sieht sich nach dem Arzt um, der sie hier heraufgebracht hat … jetzt der Maskierte Rothaarige Rächer. »Doktor …«, be ginnt sie und merkt dann, dass sie nicht weiterweiß. »Tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Jantzen, Mrs. Landon. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«
»Kann mein Mann etwas Eis bekommen? Er sagt, dass ihm …«
»Ja, natürlich. Ich hole es gleich selbst.« Er ist sofort ver schwunden. Lisey merkt, dass er nur einen Vorwand gesucht hat, um sie allein zu lassen.
Scott drückt nochmals ihre Hand. »Unterwegs«, sagt er in demselben kaum wahrnehmbaren Flüstern. »Sorry. Liebe dich.«
»Scott, nicht!« Und dann absurderweise: »Das Eis! Das Eis kommt!«
Mit offenbar gewaltiger Anstrengung – sein Atem pfeift lauter als je zuvor – hebt er eine Hand und streichelt mit einem heißen Finger ihre Wange. Nun beginnen Liseys Trä nen zu fließen. Sie weiß, was sie ihn fragen muss. Ihre Panik-stimme, die sie nie Lisey, sondern immer kleine Lisey nennt, die Geheimnishüterin tief in ihrem Inneren, protestiert wie der, das dürfe sie nicht, aber sie schiebt sie beiseite. Jede lange Ehe hat zwei Herzen: ein helles und ein dunkles. Dies ist wieder das dunkle Herz ihrer Ehe.
Sie beugt sich tiefer hinein, in seine Todeshitze. Sie kann einen letzten blassen Hauch von Foamy riechen, mit dem er sich gestern Morgen rasiert hat, und nimmt noch eine Spur des Teebaumöl-Shampoos wahr, mit dem er sich die Haare gewaschen hat. Sie beugt sich noch tiefer, bis ihre Lippen sei ne brennende Ohrmuschel berühren, und flüstert: »Los, Scott! Kriech zu dem verschmickten Pool, wenn's nicht anders geht. Wenn dein Bett leer ist, wenn der Arzt zurückkommt, lasse ich mir schon irgendwas einfallen, das ist nicht weiter wichtig, aber sieh zu, dass du in den Pool kommst und wieder gesund wirst; tu's für mich, tu's für mich, verdammt noch mal!«
»Kann nicht«, flüstert er und beginnt papieren zu husten, sodass sie unwillkürlich zurückweicht. Sie fürchtet, dass die ser Husten ihn umbringen, dass er ihn einfach zerreißen wird, aber Scott schafft es irgendwie, ihn unter Kontrolle zu brin gen. Und warum? Weil er das letzte Wort haben will. Sogar hier, auf seinem Totenbett, um ein Uhr morgens auf einer ver lassenen Isolierstation in einem Landkrankenhaus in Ken tucky, will er das letzte Wort haben. »Funktioniert … nicht.«
»Dann gehe ich! Du musst mir bloß helfen!«
Aber er schüttelt den Kopf. »Liegt quer über dem Weg … zum Pool. Es.«
Sie weiß sofort, von wem er redet. Sie sieht hilflos zu einem der Wassergläser hinüber, in dem das gescheckte Ding manchmal flüchtig zu sehen ist. Oder in einem Spiegel, stets nur aus den Augenwinkeln. Immer spätnachts. Immer wenn man desorientiert oder verletzt oder beides ist. Scotts Old Boy. Scotts Long Boy.
»Schläft … dort.« Aus Scotts zerfallender Lunge kommt ein unheimliches Geräusch. Sie glaubt, dass er erstickt, und will nach dem Pfleger klingeln, aber dann sieht sie den sarkasti schen Schimmer in seinen fieberglänzenden Augen und be merkt, dass er lacht oder zu lachen versucht. »Schläft auf … dem Weg. Seite … himmel … hoch …« Sein Blick geht zur Zim merdecke, und sie weiß bestimmt, dass er ihr erklären will, dass seine Seite so hoch wie der
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