Love
sie.
»Als hätte jemand sich beim Rasieren mordsmäßig geschnit ten«, sagte Mike und lachte. Sie lachten beide. Lisey fand, dass ihr eigenes Lachen fast so natürlich klang wie seines. Sie sah sein Glas nicht an. Sie dachte nicht an den Long Boy, der jetzt ihr Long Boy war. Sie dachte an nichts anderes mehr als an den Long Boy.
»Wollen Sie wirklich nicht noch etwas?«, fragte sie.
»Lieber nicht, ich muss noch fahren«, sagte Mike, und dar über lachten sie wieder.
Cory kam zurück, und Lisey erwartete, dass auch Mike fragen würde, ob er die Toilette benutzen durfte, aber das tat er nicht – Männer hatten größere Nieren oder größere Blasen, irgendwas jedenfalls war bei ihnen größer, das hatte Scott zumindest behauptet –, und Lisey war froh darüber, denn so warf nur das Mädchen ihr diesen seltsamen Blick zu, bevor sie mit der zerlegten Bücherschlange im Laderaum ihres Vans davonfuhren. Oh, sie würde Mike zweifellos erzählen, was sie im Wohnzimmer gesehen und auf der Toilette vorgefunden hatte, sie würde es ihm auf der langen Fahrt nach Norden zur University of Maine in Orono erzählen, aber Lisey würde es nicht mit anhören müssen. Eigentlich war der Blick des Mädchens gar nicht so schlimm gewesen, Lisey hatte zunächst gar nicht verstanden, was er zu bedeuten hatte, und war sich mit einer Hand über die Haare gefahren, weil sie dachte, sie stünden vielleicht komisch von ihrem Kopf ab oder sonst was. Erst später (nachdem sie die Eisteegläser in die Geschirrspül maschine gestellt hatte, ohne sie anzusehen) war sie selbst auf die Toilette gegangen und hatte den mit einem Handtuch verhängten Spiegel erblickt. Sie konnte sich daran erinnern, ein Handtuch über die Spiegeltür des Medizinschränkchens oben im Bad gehängt zu haben – recht gut sogar –, aber wann hatte sie diesen Spiegel zugehängt?
Lisey wusste es nicht.
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und stellte fest, dass auch der Spiegel über dem offenen Kamin mit einem Tischtuch verhängt war. Das hätte ihr auf dem Hinweg auffallen müssen, Cory war es sicher aufgefallen, es sprang förmlich ins Auge, aber die kleine Lisey Landon verbrachte neuerdings nicht mehr allzu viel Zeit damit, sich im Spiegel zu betrachten.
Sie machte einen Rundgang und stellte fest, dass bis auf zwei sämtliche Spiegel im Erdgeschoss mit Handtüchern oder Tischdecken verhängt oder (in einem Fall) abgenommen und zur Wand gedreht waren; wer A sagte, musste auch B sagen, deshalb hängte sie die beiden letzten Spiegel jetzt ebenfalls zu. Dabei fragte Lisey sich, was genau die junge Bibliothekarin mit der pinkfarbenen Red-Sox-Kappe gedacht haben mochte. Dass die Witwe des berühmten Schriftstellers entweder selbst Jüdin war oder nach jüdischem Brauch um ihren Mann trauerte und dass ihre Trauerperiode noch andauerte? Dass sie zu dem Schluss gelangt war, Kurt Vonnegut hätte recht: Spiegel wären keine reflektierenden Oberflächen, sondern Lecks, Bullaugen in eine andere Dimension? Und dachte sie selbst das nicht eigentlich auch?
Nicht Bullaugen, sondern Fenster. Und muss ich mir den Kopf darüber zerbrechen, was irgendeine kleine Bibliothekarin denkt?
Oh, wahrscheinlich nicht. Aber im Alltag gab es so viele reflektierende Oberflächen, nicht wahr? Nicht nur Spiegel. Es gab Saftgläser, in die man nicht morgens als Erstes blicken durfte, und Weingläser, in die man bei Sonnenuntergang nicht sehen durfte. Es kam so oft vor, dass man im Auto am Steuer saß und in den Armaturen das eigene Spiegelbild er blickte. So viele Nächte, in denen der Verstand von … etwas anderem … sich eines Menschen bemächtigen konnte, wenn dieser Mensch es nicht schaffte, seinen Verstand davon abzu halten, daran zu denken. Und wie genau hielt man ihn davon ab? Wie stellte man es an, an etwas Bestimmtes nicht zu den ken? Der Verstand war ein wild umherhüpfender, Kilt tragen der Rebell, um den kürzlich verstorbenen Scott Landon zu zitieren. Er war zu … nun, scheiß Feuer und spar dir die Zünd hölzer, warum sollte sie es nicht aussprechen? Er war zu so viel Bösmülligkeit imstande.
Und es gab noch etwas anderes. Etwas noch Erschrecken deres. Selbst wenn es nicht zu einem kam, konnte man viel leicht nicht verhindern, dass man zu ihm strebte. Denn sobald man diese verdammten Bänder überdehnte … sobald einem das Leben in der realen Welt vorkam wie ein lockerer Zahn in einem vereiterten Zahnfach …
Wenn sie die Treppe hinunterging, ins Auto stieg, die Dusche
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