Love
daran, dass alles bestimmt viel schlimmer aussieht, als es wirklich ist. Du kannst darauf wetten, dass sie das Blut absichtlich verteilt hat – Amandas Sinn fürs Dramatische war schon immer sehr ausgeprägt. Und du hast schon viel Schlimmeres gesehen, Lisey. Zum Beispiel die Sache mit ihrem Nabel. Oder Scott damals in Cleaves Mills. Okay?
»Was?«, fragte Darla.
»Ich habe nichts gesagt«, antwortete Lisey. Sie standen an der Tür und betrachteten ihre unglückliche ältere Schwester, die mit gesenktem Kopf und ins Gesicht hängenden Haaren am Küchentisch saß, dessen Platte ebenfalls aus fröhlich gel bem Resopal bestand.
»Doch, du hast okay gesagt.«
»Okay, ich habe okay gesagt«, bestätigte Lisey ärgerlich. »Good Ma hat immer behauptet, dass Leute, die Selbstgesprä che führen, Geld auf der Bank haben.« Und in ihrem Fall traf das zu. Dank Scott besaß sie knapp über oder knapp unter zwanzig Millionen, je nachdem, wie hoch die Schatzbriefe und bestimmte Aktien am jeweiligen Tag standen.
Doch der Gedanke an Geld schien in einer blutverschmier ten Küche nicht allzu relevant zu sein. Lisey fragte sich, ob Manda nur deshalb noch nie mit Scheiße statt mit Blut herumgespritzt hatte, weil es ihr bisher nicht in den Sinn ge kommen war. Das wäre etwas gewesen, für das sie Gott wirk lich dankbar sein mussten, nicht wahr?
»Die Messer hast du weggeräumt?«, fragte sie Darla sotto voce.
»Natürlich hab ich sie weggeräumt«, sagte Darla entrüs tet … aber ebenso leise. »Sie hat es mit Splittern von ihrer beschissenen Teetasse gemacht, Lisey. Während ich beim Pin keln war.«
Lisey hatte das selbst bereits festgestellt und sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit bei Wal-Mart neue Tassen zu kaufen. Am liebsten in fröhlichem Gelb, damit sie zum Rest der Küche passten, aber vor allem mussten sie eine Bedin gung erfüllen: Sie mussten aus Kunststoff sein und außen den kleinen Aufkleber UNZERBRECHLICH tragen.
Sie kniete sich neben Amanda und wollte nach ihrer Hand greifen, als Darla rasch sagte: »Dort hat sie sich geschnitten, Lisey. In beide Handflächen.«
Lisey nahm sehr behutsam Amandas Hände von ihrem Schoß, drehte sie nach oben und fuhr unwillkürlich zusam men. Obwohl das Blut schon zu gerinnen begann, krampfte sich beim Anblick der Schnitte ihr Magen zusammen. Und natürlich musste sie dabei wieder an Scott denken, der aus der Frühsommerdunkelheit gekommen war und ihr seine blut triefende Hand wie eine gottverdammte Liebesgabe hingehal ten hatte: als Buße für die schreckliche Sünde, dass er sich be trunken und ihre Verabredung vergessen hatte. Scheiße, und sie hatte Gerd Allen Cole einen Irren genannt?
Amanda hatte sich von den Daumenansätzen diagonal bis zu den Ansätzen der kleinen Finger geritzt, quer durch Herz linien, Lebenslinien und alle sonstigen Linien. Lisey konnte sich noch vorstellen, wie sie den ersten Schnitt geführt hatte, aber den zweiten? Der musste verdammt schwierig gewesen sein. Aber sie hatte es irgendwie geschafft und war dann durch die Küche gegangen wie eine Frau, die eine Spinnertorte mit Zu ckerguss versieht: He, seht mich an! Sieh mich an! Du nix Crazy Baby Numma eins, ich Numma eins! Manda sein Crazy Baby Numma eins, garantiert! Und das alles in der kurzen Zeit, in der Darla auf dem Klo gewesen war, um »mal eben zu pinkeln«, alle Achtung, Amanda, du auch Speedy Baby Numma eins.
»Darla – hier reichen Peroxid und Heftpflaster nicht mehr aus, Schätzchen. Sie muss in die Notaufnahme.«
»Ach, Scheiße«, sagte Darla niedergeschlagen und begann wieder zu weinen.
Lisey blickte in Amandas Gesicht, das hinter dem Haarvor hang allerdings kaum zu erkennen war. »Amanda«, sagte sie leise.
Nichts. Keine Bewegung.
»Manda.«
Nichts. Amandas Kopf war wie der einer Puppe nach unten gesackt. Dieser verdammte Charlie Corriveau, dachte Lisey. Dieser verdammte französische Scheißkerl! Aber wär es nicht »Shootin' Beans« gewesen, wär es jemand oder etwas anderes gewesen. Weil die Amandas dieser Welt einfach so konstruiert waren. Man ging davon aus, dass sie auf die Schnauze fielen, und hielt es für ein Wunder, wenn sie es nicht taten, und schließlich hatte das Wunder es satt, noch länger durchzuhal ten, und kippte um und bekam Krämpfe und ging ein.
»Manda-Bunny.«
Dieser Kosename aus ihrer Kindheit drang endlich zu Amanda durch. Langsam hob sie den Kopf. Und was Lisey auf ihrem Gesicht sah, war nicht die blutige, betäubte Leere, die sie
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