Love
erwartet hatte (ja, Amandas Lippen waren ganz rot, und das kam bestimmt nicht vom Lippenstift), sondern viel mehr die funkelnde, kindliche, stets gefährliche Mischung aus Hochmut und Schalkhaftigkeit, die bedeutete, dass Amanda losgezogen war und etwas auf eigene Faust unternommen hatte, und schon bald würde eine von ihnen in Tränen aus brechen.
»Bool«, flüsterte sie, und Lisey Landons Körpertemperatur schien von einem Augenblick zum anderen um zwanzig Grad zu fallen.
Sie brachten sie hinüber ins Wohnzimmer, wobei Amanda gefügig zwischen ihnen herging, und setzten sie auf die Couch. Dann zogen Lisey und Darla sich an die Küchentür zurück, um sich außer Hörweite beraten und Manda gleich zeitig im Auge behalten zu können.
»Was hat sie zu dir gesagt, Lisey? Du bist blass wie ein Gespenst.«
Lisey wünschte sich, Darla hätte einfach kreidebleich ge sagt. Das Wort Gespenst wollte sie nicht hören – vor allem jetzt nach Sonnenuntergang nicht mehr. Dämlich, aber wahr.
»Nichts«, sagte sie. »Na ja … buh. Wie in ›Buh, Lisey, ich bin ganz blutig, wie gefällt dir das?‹ Hör zu, Darl, du bist nicht die Einzige, die mit den Nerven runter ist.«
»Was machen die mit ihr, wenn wir sie in die Notaufnahme bringen? Wird sie wegen Selbstmordgefahr überwacht oder so was?«
»Schon möglich«, gab Lisey zu. Ihr Kopf war jetzt wieder klarer. Dieses eine Wort, dieses Bool, hatte auf seltsame Weise wie ein aufmunternder Schlag ins Gesicht oder eine Prise Riechsalz gewirkt. Natürlich hatte es sie auch zutiefst er schreckt, aber … wenn Amanda ihr etwas mitzuteilen hatte, wollte Lisey wissen, was es war. Sie hatte irgendwie das Ge fühl, dass alles, was sie erlebt hatte, vielleicht sogar »Zack McCools« Anrufe, irgendwie miteinander verknüpft war … nur wodurch? Durch Scotts Geist? Lächerlich? Oder vielleicht durch Scotts Blut-Bool? Wie wär's damit?
Oder durch seinen Long Boy. Das Ding mit der endlosen gescheckten Seite?
Es existiert nicht, Lisey, es hat immer nur in seiner Fantasie gelebt … die manchmal stark genug war, um Menschen, die ihm nahestanden, in ihren Bann zu schlagen. Stark genug, dass man beispielsweise davor zurückschreckte, nach Son nenuntergang Frischobst zu essen, obwohl man wusste, dass das irgendein kindlicher Aberglaube war, den er nie ganz abgelegt hatte. Und mit diesem Long Boy war es ganz ähnlich. Das weißt du, nicht wahr?
Wusste sie das? Warum schien dann bei jedem Versuch, darüber nachzudenken, eine Art purpurroter Nebel über ihre Gedanken herabzusinken und sie zu lähmen? Warum riet eine innere Stimme ihr jedes Mal, kein Wort mehr darüber zu ver lieren?
Darla betrachtete sie eigentümlich forschend. Lisey gab sich einen Ruck und konzentrierte sich auf den jetzigen Augen blick, die jetzigen Leute, das jetzige Problem. Und ihr fiel zum ersten Mal auf, wie müde Darl mit ihren tiefen Falten um die Mundwinkel und den dunklen Ringen unter den Augen aus sah. Als sie ihre Schwester an den Oberarmen fasste, gefiel ihr nicht, wie knochig sie sich anfühlten und wie lose die BH -Trä ger unter ihren Daumen über Darlas schmächtig gewordene Schultern zu gleiten schienen. Lisey erinnerte sich noch gut, wie sie ihren großen Schwestern neiderfüllt nachgeblickt hatte, wenn sie morgens mit dem Bus zur Lisbon High, dem Heim der Greyhounds, gefahren waren. Jetzt stand Amanda kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag, und Darla war nicht weit dahin ter. Aus den Greyhounds waren in der Tat alte Köter geworden.
»Aber hör zu, Schätzchen«, erklärte sie Darla, »sie wird nicht überwacht – das ist kein nettes Wort. Sie wird nur be obachtet.« Sie wusste nicht genau, woher sie das wusste, war sich ihrer Sache aber ziemlich sicher. »Sie behalten solche Leute vierundzwanzig Stunden lang da, glaube ich. Vielleicht auch achtundvierzig.«
»Dürfen sie das ohne Erlaubnis?«
»Vermutlich nicht, außer es handelt sich um einen Straf täter, den die Polizei eingeliefert hat.«
»Vielleicht solltest du deinen Anwalt, diesen Montana, an rufen und ihn fragen.«
»Er heißt Montano und ist um diese Zeit wahrscheinlich zu Hause. Seine Privatnummer steht nicht im Telefonbuch. Ich habe sie in meinem Adressbuch, aber das liegt bei mir zu Hause. Hör zu, Darla, wenn wir sie ins Stephens Memorial in No Soapa bringen, machen wir nichts falsch, glaube ich.«
»No Soapa« war das Kürzel der Einheimischen für Norway/ South Paris in der benachbarten Oxford County: Kleinstädte, in deren
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