Love
achtzehn Stück. »Es brennt ein bisschen, aber es funktioniert richtig richtig gut. Sieh her!«
Richtig richtig gut – wieder ein Ausdruck aus der Kinder sprache.
Er steckt seine Hand in den dünnen Tee, den er zubereitet hat, und zieht nur für einen Augenblick die Lippen hoch, sodass seine Zähne sichtbar werden, die krumm und schief und leicht verfärbt sind. »Tut ein bisschen weh«, sagt er, »aber es wirkt. Es wirkt richtig richtig gut, Lisey.«
»Ja«, sagt sie. Irgendwie bizarr, trotzdem kann sie sich vor stellen, dass es tatsächlich dazu beiträgt, eine Infektion zu verhindern oder die Heilung zu fördern, vielleicht sogar bei des. Chuckie Delorme, der Koch an der Imbisstheke im Res taurant, ist ein großer Fan der Zeitschrift Insider, in der auch sie gelegentlich blättert. Erst vor einigen Wochen hat sie in einem Artikel auf den hinteren Seiten gelesen, dass Tee gegen alles Mögliche helfen soll. Natürlich stand dieser Artikel auf derselben Seite wie der Artikel über die Bigfoot-Knochen, die man in Minnesota gefunden hatte. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
»Nicht ich, Paul.« Er ist aufgeregt und hat seine frische Gesichtsfarbe zurückbekommen. Fast als hätte er sich über haupt nie verletzt, denkt sie.
Scott weist mit dem Kinn auf seine Hemdtasche. »Gib mir 'ne Zigarette, Babylove.«
»Darfst du überhaupt rauchen, wenn deine Hand so …«
»Klar, klar.«
Also zieht sie seine Zigaretten aus der Hemdtasche, steckt ihm eine zwischen die Lippen und gibt ihm Feuer. Duftender Rauch (diesen Geruch wird sie immer lieben) steigt in einer blauen Säule zu der durchhängenden, wasserfleckigen Decke ihrer Küche auf. Sie möchte ihn über Bools, vor allem über Blut-Bools, ausfragen. Allmählich entwickelt sie eine kon krete Vorstellung.
»Scott, sind dein Bruder und du bei euren Eltern aufge wachsen?«
»Nein, nein.« Er hat sich die Zigarette in einen Mundwinkel geklemmt und kneift das Auge darüber gegen den Rauch zusammen. »Mama ist bei meiner Geburt gestorben. Daddy hat immer gesagt, dass ich sie auf dem Gewissen habe, weil ich eine Schlafmütze und viel zu groß war.« Darüber lacht er, als wäre dies der komischste Witz der Welt, aber es ist irgendwie auch ein nervöses Lachen: wie das Lachen eines kleinen Jungen über einen schmutzigen Witz, den er nicht ganz versteht.
Sie sagt nichts. Sie hat Angst davor.
Er starrt die Stelle an, wo seine Hand in der Wanne ver schwindet, die jetzt mit blutig gefärbtem Tee gefüllt ist. Er pafft seine Herbert Tareyton sehr hastig, und die Asche wird lang. Sein Auge ist weiterhin zugekniffen und lässt ihn irgend wie anders aussehen. Nicht wie einen Fremden, das nicht, aber anders . Wie …
Oh, sagen wir, wie ein älterer Bruder. Einer, der schon ge storben ist.
»Aber Daddy hat gesagt, es ist nicht meine Schuld gewesen, dass ich weitergeschlafen hab, als ich hätte rauskommen sol len. Sie hätte mich ohrfeigen sollen, um mich zu wecken, hat er gesagt, aber sie hat's nicht getan, also bin ich zu groß ge worden, und das hat sie das Leben gekostet, Bool, das Ende.« Scott lacht. Seine Zigarettenasche fällt auf die Arbeitsplatte. Das scheint er nicht zu bemerken. Er starrt seine Hand in der trüben Brühe an, sagt aber nichts mehr.
So bleibt Lisey in einem heiklen Dilemma zurück. Soll sie weiterfragen oder nicht? Sie hat Angst, dass er vielleicht nicht antwortet oder sie gar anfaucht (er kann Leute anfau chen, das weiß sie von gelegentlichen Besuchen in seinem Seminar über moderne Lyriker). Gleichzeitig hat sie Angst davor, dass er antwortet. Im Grunde ist sie überzeugt, dass er es tun wird.
»Scott?« Das sagt sie ganz leise.
»Mhm?« Die Zigarette ist bereits zu drei Vierteln bis zu dem vermeintlichen Filter herabgebrannt, der bei einer Herbert Tareyton jedoch nur eine Art Mundstück ist.
»Hat dein Daddy Bools gemacht?«
»Blut-Bools, klar. Wenn wir uns nicht getraut haben oder um Bösmülligkeit rauszulassen. Paul hat gute Bools gemacht. Spaßige. Wie Schnitzeljagden. Folge den Hinweisen. ›Bool! Das Ende!‹, dann gibt's einen Preis. Bonbons oder eine RC -Cola.« Von seiner Zigarette fällt wieder Asche. Scotts Blick bleibt auf den blutigen Tee in der Wanne gerichtet. »Aber von Daddy gibt's einen Kuss.« Er sieht sie an, und sie begreift plötzlich, dass er genau weiß, was sie aus Schüchternheit nicht zu fra gen wagt, und ihr darauf antwortet, so gut er kann. Soweit er sich traut. »Das war Daddys Belohnung. Ein Kuss, wenn der
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