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Love

Love

Titel: Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht mehr anschreien konnte«, erklärt sie ihm. Das findet sie plötzlich komisch und fängt an zu lachen. Sie lacht laut, und dieses Geräusch schockiert sie so sehr, dass sie in Tränen ausbricht. Dann fühlt sie sich schwindlig. Sie setzt sich auf die Hintertreppe, weil sie fürch tet, sie könnte in Ohnmacht fallen.
    Scott setzt sich neben sie. Er ist vierundzwanzig, seine Haare fallen ihm bis fast auf die Schultern, im Gesicht hat er einen kratzigen Zweitagebart, und er ist so schlank wie ein Lineal. Um seine linke Hand gewickelt trägt er ihre Bluse, von der sich ein Ärmel gelöst hat und jetzt herunterbaumelt. Er küsst die pochende Mulde ihrer Schläfe, dann blickt er sie voll mitfühlendem Verständnis an. Als er spricht, klingt seine Stimme fast wieder normal.
    »Ich verstehe«, sagt er. »Familien sind Scheiße.«
    »O ja, das sind sie«, flüstert Lisey.
    Er legt seinen Arm um sie – den linken, den sie für sich bereits den Blut-Bool-Arm nennt, sein Geschenk an sie, sein irres, konfuses Freitagabendgeschenk.
    »Aber sie müssen einem nicht wichtig sein«, sagt er. Seine Stimme klingt bizarr heiter. Als ob er seine linke Hand nicht gerade in rohes, blutiges Fleisch verwandelt hätte. »Hör zu, Lisey: Menschen können alles vergessen.«
    Sie mustert ihn zweifelnd. »Können sie das?«
    »Ja. Dies ist jetzt unsere Zeit. Du und ich. Nur darauf kommt es an.«
    Du und ich. Aber will sie das? Seit sie jetzt weiß, wie labil sein Gleichgewicht ist? Seit sie eine Vorstellung davon hat, wie ein Leben mit ihm aussehen könnte? Dann erinnert sie sich daran, wie seine Lippen die Mulde ihrer Schläfe, diesen speziellen geheimen Ort, berührt haben, und denkt: Vielleicht will ich es. Hat nicht jeder Hurrikan ein Auge, in dem Wind stille herrscht?
    »Tut es das?«, fragt sie.
    Einige Sekunden lang sagt er nichts. Hält sie nur umarmt. Aus der kümmerlichen Innenstadt von Cleaves Mills hallen Motorlärm, Geschrei und wildes, brüllendes Gelächter her über. Es ist Freitagnacht, und die verlorenen Jungs sind beim Spielen. Aber das ist nicht hier. Hier gibt es nur die Düfte ihres lang gestreckten, abfallenden Gartens, der dem Sommer ent gegenschläft, die Stimme Plutos, der unter dem Laternenpfahl im Garten nebenan kläfft, und das Gefühl seines um sie ge legten Arms. Selbst den feuchtwarmen Druck seiner verletz ten Hand, die ihre nackte Haut oberhalb der Taille wie ein Brandmal zeichnet, empfindet sie als beruhigend.
    »Baby«, sagt er schließlich.
    Eine Pause.
    Dann: »Babylove.«
    Für Lisey Debusher, zweiundzwanzig, ihrer Familie über drüssig und ihres Alleinseins ebenso müde, ist das genug. Endlich genug. Er hat sie heimgerufen, und in der Dunkelheit ergibt sie sich dem Scott in ihm. Von nun an bis zum Ende wird sie niemals mehr zurückblicken.
    18 Als sie wieder in der Küche sind, wickelt sie ihre Blu se von seiner Hand und sieht die Verletzung. Bei diesem An blick spürt sie einen weiteren Schwächeanfall wie eine Woge, die sie erst zu der hellen Deckenleuchte hochhebt und dann in die Dunkelheit stürzen lässt; sie muss kämpfen, um bei Be wusstsein zu bleiben, und schafft es nur, indem sie sich sagt:
    Er braucht mich. Er braucht mich, damit ich ihn in die Not aufnahme im Derry Home fahre.
    Irgendwie hat er es geschafft, die Adern zu verfehlen, die am Handgelenk so dicht unter der Haut liegen – ein blauäugiges Wunder –, aber die Handfläche ist an mindestens vier Stellen zerschnitten, große Hautfetzen hängen wie Tapeten herunter, und die drei »dicken Finger«, wie ihr Dad sie ge nannt hat, weisen ebenfalls Schnitte auf. Das Glanzstück ist eine grässliche Schnittwunde am Unterarm, aus der wie eine Haifischflosse ein Dreieck aus dickem, grünlichem Glas ragt. Sie hört sich einen hilflosen Uuh -Laut ausstoßen, als er die Scherbe fast lässig herauszieht und in den Müll wirft. Rück sichtsvoll darum bemüht, kein Blut auf den Küchenboden tropfen zu lassen, hält er sich dabei ihre blutgetränkte Bluse unter Hand und Unterarm. Ein paar Tropfen fallen dennoch aufs Linoleum, aber hinterher gibt es erstaunlich wenig auf zuwischen. In der Küche steht ein hochbeiniger Hocker, auf dem sie beim Gemüseputzen oder manchmal sogar beim Abwaschen sitzt (wer täglich acht Stunden auf den Beinen ist, nutzt jede Gelegenheit zu einer kleinen Sitzpause), und Scott zieht ihn mit einem Fuß heran, damit er sitzen kann, während Blut von seiner Hand ins Spülbecken tropft. Er kündigt an, dass er ihr sagen

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