Loved by an Angel
den Stuhl wieder auf, setzte sich und studierte den Fahrplan.
Tristan las über Gregorys Schulter mit und sah, wie Gregory den letzten Zug nach Mitternacht einkreiste. Dieser verließ Tusset um 1:24 Uhr, aber er hielt nicht an dem kleinen Bahnhof von Stonehill. Gregory rechnete kurz hin und her, dann schrieb er »2:04« auf, kreiste die Uhrzeit doppelt ein und schob den Fahrplan unter ein Buch. Eine Viertelstunde blieb er noch sitzen, das Kinn auf die Hand gestützt.
Tristan fragte sich, was in Gregorys Kopf vor sich ging, aber er war viel zu erschöpft, um sich in ihn hineinzuwagen. Gregory wirkte nun wesentlich ruhiger - so ruhig, dass es schon unheimlich war. Er lehnte sich langsam zurück und nickte mit dem Kopf, als träfe er gerade eine wichtige Entscheidung. Dann griff er nach seinen Autoschlüsseln und ging zur Tür. Auf halber Treppe fing Gregory zu pfeifen an.
13
»Ich glaube, die hat ihre besten Zeiten hinter sich«, meinte Beth und musterte die verwelkte Mohnblume, die Ivy in einem Wasserglas auf den Tisch gestellt hatte.
Als Lillian und Betty den Laden am Donnerstagmorgen aufgeschlossen hatten, sahen sie die Blume im Mund von King Kong - wie ein Tangotänzer hielt er eine Rose zwischen den Zähnen. Ivy bestritt im Laufe des Tages immer wieder, dass sie sich den Spaß erlaubt hatte, King Kong mit einer Blume auszustaffieren.
»Warum versuchen wir überhaupt, sie wieder zum Leben zu erwecken?«, fragte Beth und leckte an ihrem Eis. »Können wir King Kong denn nicht einfach eine neue kaufen?«
»Am Samstag haben sie Mohnblüten auf dem Festival verkauft«, erwiderte Ivy. »Ich habe purpurfarbene für Tristan gekauft. Philip und ich haben sie ihm aufs Grab gelegt.«
»Zum Glück war Philip bei dir«, sagte Beth. »Ihm fehlt Tristan auch.«
»Er hat aus den Blumen ein T auf das Grab gelegt«, erzählte ihr Ivy mit einem schwachen Lächeln.
Beth nickte, als wäre ihr nun völlig klar, warum sich Ivy um eine verwelkte Mohnblüte bemühte, die jemand im Laden zurückgelassen hatte.
»Ich drehe allmählich durch, oder?«, fragte Ivy plötzlich. »Eigentlich sollte es mir mittlerweile besser gehen! Ich sollte über Tristan hinwegkommen! Stattdessen sitze ich hier und versuche, diese dämliche Blume wie ein Andenken zu retten, bloß, weil sie aussieht wie die, die ich ...«
Sie nahm die Mohnblüte aus dem Glas und warf sie auf ein Tablett mit schmutzigen Tellern, das eine Kellnerin gerade vorbeitrug.
Beth stand auf, rannte der Kellnerin hinterher und kam mit der Mohnblüte zurück.
»Vielleicht kann man die Samen noch retten«, meinte sie und stellte die Blume wieder in das Wasserglas.
Ivy schüttelte den Kopf und nippte schweigend an ihrem Tee. Beth kaute eine Weile gedankenverloren auf ihrer Eiswaffel herum.
»Weißt du«, sagte Beth schließlich, »wenn du mir was erzählen willst, schieß ruhig los.«
Ivy nickte. »Es tut mir leid, Beth. Ich ruf dich panisch um neun Uhr abends an, zerr dich vom Schreibtisch weg, um in einem muffigen Howard-Johnson-Restaurant noch dazu während einer lustigen Seniorenbowlingparty etwas zu essen ...«Ivy warf einen Blick in den zum Bersten vollen grünorangefarbenen Raum. »Und jetzt krieg ich die Zähne nicht auseinander.«
»Schon in Ordnung«, beruhigte sie Beth und wedelte mit ihrer Waffel herum. »Ich kann mir ein fettes Eis reinziehen - dafür hättest du mich auch nachts um drei anrufen können! Aber woher weißt du, dass ich am Schreiben war?«
Ivy lächelte. Beth war ihr auf dem Parkplatz in abgeschnittenen Jogginghosen, ungeschminkt und mit einer alten Brille entgegengekommen, die sie nur noch trug, wenn sie vor dem Computer klebte. An ihrem T-Shirt hing ein Klebezettel mit Notizen und ihre Haare wurden von einer Vielzweckklammer zusammengehalten.
»War nur so ein Gefühl«, erwiderte Ivy. »Was macht Suzanne denn heute Abend?«
Ivy und Suzanne hatten seit dem Festival nicht mehr miteinander geredet.
»Sie ist mit irgendjemand unterwegs.«
»Gregory?«, fragte Ivy stirnrunzelnd. Er hatte versprochen, bei Philip zu bleiben, bis sie wieder zu Hause war.
»Nein, mit irgendeinem Typen, der Gregory rasend eifersüchtig machen soll.«
»Ah ja.«
»Hat sie dir das nicht erzählt?«, fragte Beth überrascht. »Suzanne redet über nichts anderes mehr.« Als sie Ivys Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: »Suzanne denkt
bestimmt, sie hat es dir erzählt. Du weißt ja, wie so was läuft - man erzählt einer Freundin was und
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