Lovesong
überlege, ob darin irgendwas darüber stand, dass Mia Juilliard verlassen oder Liederabende in der Carnegie Hall gegeben hätte.
Noch einmal hebe ich den Blick. Ihre Augen sind immer noch da, starren mich unverändert an. Und plötzlich weiß ich mit absoluter Gewissheit, dass sie heute Abend spielt. Noch bevor ich das Datum auf dem Plakat überprüft habe und es schwarz auf weiß sehe, dass das Konzert für den dreizehnten August angesetzt ist, ist mir das klar.
Und ehe ich weiß, wie mir geschieht, noch ehe ich mich selbst zur Vernunft bringen, mir selbst verklickern kann, dass das absolut keine gute Idee ist, marschiere ich schon auf die Kasse zu. Ich will sie nicht sehen, rede ich mir ein. Ich werde sie nicht sehen. Ich will sie ja nur hören . Auf einem Hinweisschild beim Kartenschalter lese ich, dass die heutige Vorstellung ausverkauft ist. Klar könnte ich denen sagen, wer ich bin, oder beim Hotelconcierge oder bei Aldous anrufen und noch ein Ticket ergattern, doch stattdessen überlasse ich das Ganze dem Schicksal. Ganz der unbedeutende, schlecht gekleidete junge Mann, der ich bin, gehe ich rein und frage, ob es noch Restkarten gibt.
»Oh, Sie haben Glück, wir geben gerade die letzten Karten frei. Ich hätte da einen Platz im ersten Rang hinten an der Seite. Nicht der ideale Sitzplatz von der Sicht her, aber was Besseres haben wir nicht«, erklärt mir das Mädchen hinter der Glasscheibe.
»Ich bin ja nicht wegen der Aussicht da«, erwidere ich.
»Das denke ich mir auch immer«, meint das Mädchen lachend. »Aber irgendwie sind die Leute in dem Punkt eigen. Das macht dann fünfundzwanzig Dollar.«
Ich reiche ihr meine Kreditkarte, und kurz darauf betrete ich auch schon den kühlen, düsteren Konzertsaal. Ich lasse mich auf meinem Platz nieder und schließe die Augen, um mich an das letzte Mal zu erinnern, dass ich mir in einem solch noblen Saal ein Cellokonzert angehört hab. Das war vor fünf Jahren gewesen, unser erstes Date. Genau wie an jenem Abend werde ich jetzt von einer überwältigenden Vorfreude erfasst, obwohl ich genau weiß, dass ich sie heute nicht wie damals küssen werde. Geschweige denn, dass ich sie berühren werde. Oder sie aus der Nähe sehen.
Heute Abend werde ich ihr einfach nur zuhören. Und allein das wird mir genügen.
3
Am vierten Tag wachte Mia aus dem Koma auf, aber erst am sechsten Tag erzählten wir ihr alles. Es war sowieso nicht von Bedeutung, denn sie schien schon alles zu wissen. Wir saßen um ihr Bett in der Intensivstation des Krankenhauses versammelt. Ihr schweigsamer Großvater hatte den Kürzeren gezogen, schätze ich, denn es war nun an ihm, ihr die schreckliche Nachricht zu übermitteln, dass ihre Eltern Kat und Denny nach dem Unfall, dessentwegen sie hier lag, sofort tot gewesen waren. Und dass ihr kleiner Bruder Teddy in der Notaufnahme des Regionalkrankenhauses gestorben war, in das man ihn und Mia gebracht hatte, ehe man Mia dann nach Portland verlegte. Keiner kannte die Ursache für den Unfall. Ob Mia sich wohl daran erinnern würde?
Mia lag einfach nur so da, blinzelte mit den Augen und hielt meine Hand fest umklammert. Sie vergrub ihre Fingernägel so tief darin, dass es den Anschein machte, sie wolle mich nie wieder loslassen. Sie schüttelte den Kopf und sagte mit leiser Stimme: »Nein, nein, nein«, wieder und wieder, allerdings ohne auch nur eine Träne zu vergießen, und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie damit auf die Frage ihres Großvaters reagierte oder ob sie so die ganze Situation verleugnete. Nein!
Doch dann betrat ihre Sozialarbeiterin den Raum und übernahm nüchtern und mit sicherer Hand die Regie. Sie klärte Mia über die Operationen auf, die sie bisher über sich hatte ergehen lassen müssen – »Alles Routine. Dein Zustand hat sich schon deutlich gebessert« –; dann sprach sie über die Eingriffe, die in den folgenden Monaten noch auf sie zukommen würden: eine Operation, um den Knochen ihres rechten Beins mit Metallstäben zu stabilisieren. Dann noch eine Operation, ungefähr eine Woche später, um am Oberschenkel ihres unverletzten Beins Hautgewebe zu entnehmen. Eine weitere, um diese Haut auf das kaputte Bein zu verpflanzen. Diese beiden Eingriffe würden allerdings ein paar »scheußliche Narben« hinterlassen. Doch die Verletzungen in ihrem Gesicht würden nach einem chirurgischen Eingriff sehr wahrscheinlich nach einem Jahr spurlos verschwunden sein. »Wenn du erst einmal die wichtigsten Operationen überstanden
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