Lovesong
funktionstüchtigen Körper. Und in dieser anderen Welt hatten ein paar Juroren Mia ein paar Monate zuvor spielen hören und sich weiter mit ihrer Bewerbung für das Konservatorium befasst, und sie hatte tatsächlich die diversen Hürden genommen, bis man schließlich zu dem endgültigen Urteil gekommen war, das nun schwarz auf weiß vor uns lag. Mias Großmutter war zu aufgeregt gewesen, um den Umschlag zu öffnen, weshalb sie auf ihren Mann und mich gewartet hatte, ehe sie ihn mit einem Perlmutt-Brieföffner aufschlitzte.
Mia hatte es geschafft. Aber hatten daran denn jemals irgendwelche Zweifel bestanden?
Wir alle waren der Ansicht, diese Bestätigung würde ihr guttun, ein kleiner Lichtblick am sonst so düsteren Horizont.
»Und ich habe bereits mit dem Dekan des Zulassungsbüros gesprochen, und der meint, du könntest auch ein Jahr später anfangen, sogar zwei, wenn es denn sein müsste«, hatte Mias Großmutter erklärt, als sie Mia die Neuigkeit überbracht und ihr von dem großzügigen Stipendium erzählt hatte, das mit der Zulassung einherging. Juilliard hatte diesen Aufschub sogar von sich aus vorgeschlagen, da man sichergehen wollte, dass Mia den hohen Ansprüchen der Schule gerecht werden konnte, sollte ihr Entschluss positiv ausfallen.
»Nein«, hatte Mia mit derselben unbewegten Stimme gesagt, mit der sie seit dem Unfall sprach, dort in dem deprimierenden Aufenthaltsraum des Reha-Zentrums. Niemand von uns hätte genau sagen können, ob ihr neuer Gesprächston auf das emotionale Trauma zurückzuführen war oder ob es an Mias aktuellem Gefühlshaushalt lag, Ausdruck ihres völlig umgekrempelten Denkapparats. Obwohl uns ihre Betreuerin und auch ihre Therapeutin anhand zahlreicher Auswertungen wieder und wieder versicherten, dass sie gewaltige Fortschritte machte, waren wir immer noch in Sorge. Im Flüsterton unterhielten wir uns über diese Dinge, wenn wir sie abends allein ließen und ich mich nicht dazu durchringen konnte, bei ihr zu bleiben.
»Nun triff mal keine voreiligen Entschlüsse«, hatte ihre Großmutter erwidert. »In einem Jahr oder in zwei wird die Welt schon wieder ganz anders aussehen. Und dann kannst du ja immer noch auf diese Schule.«
Mias Großmutter war davon ausgegangen, dass Mia nicht auf die Juilliard wollte. Mir aber war sofort klar gewesen, was sie mit diesem entschlossenen Nein gemeint hatte. Denn ich kannte Mia nur zu gut. Sie wollte keinen Aufschub.
Mia und ihre Großmutter stritten sich eine Weile darüber. Bis September waren es nur fünf Monate. Viel zu bald schon. Und irgendwo hatte sie wohl recht. Mias Bein steckte immer noch in einer von diesen Beinschienen, und sie hatte gerade erst wieder angefangen, eigenständig zu gehen. Allein konnte sie kein Konservenglas öffnen, weil ihre rechte Hand zu schwach war, und manchmal fielen ihr die Bezeichnungen der einfachsten Dinge nicht ein, wie zum Beispiel das Wort für Schere. Doch all das, so die Therapeuten, sei völlig normal und werde sich wahrscheinlich legen – doch das brauche eben seine Zeit. Aber fünf Monate? Das war ganz und gar nicht lang genug.
An jenem Nachmittag verlangte Mia nach ihrem Cello. Ihre Großmutter hatte die Stirn gerunzelt, weil sie befürchtete, Mias überstürztes Handeln könne ihrer Genesung im Wege stehen. Ich aber war von meinem Stuhl aufgesprungen, hatte mich ohne Umschweife in mein Auto gesetzt und war bis Sonnenuntergang mit dem Cello zurückgekehrt.
Und ab diesem Zeitpunkt war das Cello ihre Therapie gewesen: in physischer, emotionaler und mentaler Hinsicht. Die Ärzte staunten nur noch, wie kräftig Mias Oberkörper inzwischen war – ihre frühere Musiklehrerin Professor Christie hatte das ihren »Cellokörper« genannt: breite Schultern, muskulöse Oberarme –, und dank ihres Spiels erlangte sie bald ihre frühere Kraft wieder, sodass ihr rechter Arm keine Schwäche mehr zeigte und auch ihr verletztes Bein sich stabilisierte. Es half gegen die Schwindelanfälle. Während sie spielte, schloss Mia die Augen, und das, so behauptete sie, sowie die Tatsache, dass sie beide Beine fest auf den Boden stemme, stärke ihren Gleichgewichtssinn. Doch durch ihr Spiel verriet Mia zugleich die Probleme, die sie in der alltäglichen Konversation zu verbergen suchte. Wenn sie eine Cola wollte, sich aber nicht mehr an das Wort erinnerte, dann überspielte sie dies, indem sie einfach nach Orangensaft fragte. Doch mit ihrem Cello war sie ehrlich und gestand, dass sie sich zwar an eine
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