Lovesong
Bach-Suite erinnern könne, an der sie vor wenigen Monaten gearbeitet habe, nicht aber an eine einfache Etüde, die sie als Kind gelernt hatte. Als Professor Christie, die einmal die Woche vorbeikam, um mit ihr zu üben, sie ihr zeigte, beherrschte sie sie allerdings sofort wieder. So erhielten die Sprachtherapeuten und Neurologen wertvolle Hinweise darauf, wie unberechenbar ihr Gehirn war, und sie passten ihre Therapien entsprechend an.
Das Wichtigste aber war, dass das Cello ihre Stimmung besserte. Denn auf diese Weise hatte sie jeden Tag etwas zu tun. Sie hörte auf, in diesem seltsamen monotonen Tonfall zu sprechen, und redete endlich wieder wie die alte Mia, zumindest dann, wenn sie über Musik sprach. Ihre Therapeuten änderten ihren Reha-Plan und gewährten ihr mehr Zeit für ihre Übungen. »Wir können zwar nicht genau sagen, inwiefern sich Musik positiv auf das Gehirn auswirkt«, erklärte mir einer der Neurologen eines Nachmittags, während er zuhörte, wie sie einer Gruppe von Patienten im Aufenthaltsraum etwas vorspielte, »doch wir sind überzeugt, dass dem so ist. Man braucht sich Mia nur anzusehen.«
Nach vier Wochen wurde sie aus der Reha-Klinik entlassen, zwei Wochen vor dem ursprünglich geplanten Termin. Sie konnte nun mithilfe einer Krücke gehen, allein ein Glas Erdnussbutter öffnen, und sie spielte Beethoven wie ein wahrer Meister.
Dieser Artikel, diese Zwanzig-unter-zwanzig -Geschichte in der All About Us, die Liz mir geschickt hatte … Ich erinnere mich noch an ein ganz bestimmtes Detail. Da war die nicht nur angedeutete, sondern ganz offen zur Sprache gebrachte Verbindung zwischen Mias »Tragödie« und ihrer »überirdischen« Spielweise angesprochen worden. Und ich erinnere mich nur zu gut, wie wütend mich das damals machte. Denn da schwang auch eine gewisse Beleidigung mit – so, als läge die einzige Möglichkeit, ihr Talent zu erklären, darin, es einer übernatürlichen Macht zuzuschreiben. Was dachten die sich eigentlich? Glaubten die etwa, dass Mias tote Familie sich in ihrem Körper eingenistet hatte und über Mias Finger himmlische Chöre erklingen ließ?
Der entscheidende Punkt aber war, dass tatsächlich etwas Überirdisches geschehen war. Und ich wusste es nur zu gut, denn ich war dabei gewesen, war Zeuge all dessen geworden: Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Mia sich von einer überaus talentierten Cellistin in etwas völlig anderes verwandelt hatte. In einem Zeitraum von nur fünf Monaten ging eine magische, kaum zu begreifende Verwandlung mit ihr vor. Man konnte tatsächlich sagen, dass alles mit dieser »Tragödie« zusammenhing. Allerdings war es Mia selbst, die für diese plötzliche Verwandlung die Hauptverantwortung trug. So war es schon immer gewesen.
Am ersten Dienstag im September brach sie auf nach Juilliard. Ich fuhr sie zum Flughafen. Zum Abschied gab sie mir einen Kuss. Und sie erklärte mir, dass sie mich mehr liebe als das Leben selbst. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Flugzeug.
Sie kehrte nie wieder zurück.
4
Der Bogen ist alt, das Rosshaar verklebt.
In Reparatur geschickt, wie ich und wie du.
Warum sehen sie deiner Hinrichtung zu?
Das Publikum belohnt dich mit stehenden Ovationen.
»Dust«, Collateral Damage, Song Nummer 9
Als nach dem Konzert die Lichter wieder angehen, fühle ich mich ausgelaugt, schwermütig, so als hätte man mir heimlich alles Blut abgezapft und es durch Teer ersetzt. Nachdem der Jubel sich gelegt hat, erheben die Leute um mich herum sich nach und nach von ihren Sitzplätzen und sprechen über das Konzert, über die Schönheit von Bach, die Schwermut von Elgar, den Mut – der sich überdies bezahlt gemacht hat –, zwischendurch auch ein zeitgenössisches Stück von John Cage einzuflechten. In erster Linie aber spricht man über Dvorˇák, und ich kann gut verstehen, warum das so ist.
Immer wenn Mia früher Cello spielte, stand die Konzentration ihr auf den Körper geschrieben: Eine Falte legte sich dann über ihre Stirn. Ihre Lippen waren oft nur noch zwei schmale Linien und dermaßen angespannt, dass jegliche Farbe aus ihnen wich, als würden ihre Hände all ihr Blut für sich in Anspruch nehmen.
Ein bisschen war es auch so bei den frühen Stücken an diesem Abend. Doch als sie bei Dvorˇák angelangt war, dem letzten Stück ihres Vortrags, da wurde sie von etwas ergriffen. Ich könnte nicht sagen, ob sie einfach einen Lauf bekam oder ob dieses Stück so was wie ihre persönliche Visitenkarte
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